Die Wanderratten

    1. Es gibt zwei Sorten Ratten:
    2. Die hungrigen und satten.
    3. Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
    4. Die hungrigen aber wandern aus.

 

    1. Sie wandern viele tausend Meilen,
    2. Ganz ohne Rasten und Weilen,
    3. Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,
    4. Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.

 

    1. Sie klimmen wohl über die Höhen,
    2. Sie schwimmen wohl durch die Seen;
    3. Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,
    4. Die Lebenden lassen die Toten zurück.

 

    1. Es haben diese Käuze
    2. Gar fürchterliche Schnäuze;
    3. Sie tragen die Köpfe geschoren egal,
    4. Ganz radikal, ganz rattenkahl.

 

    1. Die radikale Rotte
    2. Weiß nichts von einem Gotte.
    3. Sie lassen nicht taufen ihre Brut,
    4. Die Weiber sind Gemeindegut.

 

    1. Der sinnliche Rattenhaufen,
    2. Er will nur fressen und saufen,
    3. Er denkt nicht, während er säuft und frisst,
    4. Dass unsre Seele unsterblich ist.

 

    1. So eine wilde Ratze,
    2. Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;
    3. Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld
    4. Und wünscht aufs neue zu teilen die Welt.

 

    1. Die Wanderratten, o wehe!
    2. Sie sind schon in der Nähe.
    3. Sie rücken heran, ich höre schon
    4. Ihr Pfeifen – die Zahl ist Legion.

 

    1. O wehe! Wir sind verloren,
    2. Sie sind schon vor den Toren!
    3. Der Bürgermeister und Senat,
    4. Sie schütteln die Köpfe, und keiner weiß Rat.

 

    1. Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,
    2. Die Glocken läuten die Pfaffen.
    3. Gefährdet ist das Palladium
    4. Des sittlichen Staats, das Eigentum.

 

    1. Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete,
    2. Nicht hochwohlweise Senatsdekrete,
    3. Auch nicht Kanonen, viel Hundertpfünder,
    4. Sie helfen Euch heute, Ihr lieben Kinder!

 

    1. Heut helfen Euch nicht die Wortgespinste
    2. Der abgelebten Redekünste.
    3. Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,
    4. Sie springen über die feinsten Sophismen.

 

    1. Im hungrigen Magen Eingang finden
    2. Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,
    3. Nur Argumente von Rinderbraten,
    4. Begleitet mit Göttinger Wurst-Zitaten.

 

  1. Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,
  2. Behaget den radikalen Rotten
  3. Viel besser als ein Mirabeau
  4. Und alle Redner seit Cicero.

Erläuterungen

Das Gedicht Die Wanderratten von Heinrich Heine ist 1869 in der Gartenlaube erschienen. Wann es allerdings genau entstanden ist, scheint bis heute unklar zu sein. Das Gedicht weist sowohl Merkmale der Fabel als auch der Ballade auf, wobei es eine sehr bedrohliche, düstere Stimmung erzeugt.

Das Gedicht Die Wanderratten hat 14 Strophen und thematisiert die Ratten. Diese können hierbei gewissermaßen nichts für ihr Dasein, da sie von Natur aus zur Ratte geboren wurden.


Stichwortverzeichnis