Neutraler Erzähler

Ein epischer Text hat einen Erzähler, der dem Leser die Geschichte erzählt. Dieser Erzähler kann unterschiedliche Positionen einnehmen. Diese Position wird als Erzählperspektive bezeichnet. Grundsätzlich unterscheiden wir vier Erzählperspektiven: die auktoriale, personale, neutrale und die Sonderform des Ich-Erzählers. In diesem Beitrag geht es um den neutralen Erzähler.


Eigenschaften & Beispiele

Ein neutraler Erzähler zieht sich aus der Figurenwelt zurück. Das bedeutet, dass es keine kommentierende oder wertende Erzählerstimme gibt, die den Leser durch die Geschichte führt. Der neutrale Erzähler zeigt also lediglich äußerlich wahrnehmbare Vorgänge, was sich in etwa mit einem Stummfilm vergleichen lässt. Jedoch zeigt uns der neutrale Erzähler auch Dialoge, gewährt uns jedoch keinen Blick in die Gedanken oder Gefühle der sprechenden Figuren. Schauen wir zur Veranschaulichung auf ein Beispiel.


Bei Walther Wortwuchs gab es heute ein Abendessen aus vier Gängen: Tomatensuppe, Gänsebraten und Rehrücken sowie ein Kompott. Zum Abendessen waren die Enkelkinder des Mannes geladen. Nach dem der letzte Krümel verspeist war, verabschiedeten sich alle voneinander und Walther ging ins Bett.


Im obigen Beispiel gibt es den Protagonisten Walther Wortwuchs und seine Enkelkinder, die miteinander ein Menü essen und sich anschließend verabschieden, woraufhin Walther ins Bett fällt. Wir erfahren aber nicht, was die Figuren denken oder wie sie sich fühlen, geschweige denn, ob Walther müde ist oder nicht.

Folglich kann der Erzähler als neutral bezeichnet werden, da er sich in Bezug auf Wertungen, Innensichten oder Erklärungen weitestgehend zurückhält. Am leichtesten können wir dieses Erzählverhalten in Dialogen auszumachen, die natürlich auch ohne einen Erzähler auskommen können. Schauen wir auf ein Beispiel aus Theodor Fontanes Effi Briest, das gänzlich ohne Erzähler gestaltet ist.


»Man soll sein Schicksal nicht versuchen; Hochmut kommt vor dem Fall.«
»Immer Gouvernante; du bist doch die geborene alte Jungfer.«
»Und hoffe mich doch noch zu verheiraten. Und vielleicht eher als du.«


In anderen Werken werden Dialoge mitunter durch den Erzähler kommentiert, bewertet oder auch durch zusätzliche Informationen angereichert („Ich hasse dich!“, schrie er wütend.“), während in diesem Beispiel die Aussagen der Sprechenden für sich stehen. Der neutrale Erzähler gewährt uns demzufolge einen Einblick in die Gesprächssituation, äußert sich allerdings selbst nicht zu dieser.

Zur Veranschaulichung möchten wir das erste Beispiel in die personale Erzählsituation umformulieren, so dass ersichtlich wird, was der grundsätzliche Unterschied zwischen den beiden Erzählperspektiven ist. Hierbei würden uns Informationen über die Handelnden gewährt, die von außen nicht ersichtlich sind.


Bei Walther Wortwuchs, einem verbitterten Deutschlehrer, gab es heute ein Abendessen aus vier Gängen: Tomatensuppe, Gänsebraten und Rehrücken sowie ein Kompott. Zum Abendessen waren die Enkelkinder des Mannes geladen, die er nicht ausstehen konnte. Nach dem der letzte Krümel verspeist war – Walther hatte es nicht geschmeckt – verabschiedeten sich alle voneinander und Walther ging müde ins Bett.


Hinweis: Der Unterschied zwischen personalem und neutralem Erzähler sollte ersichtlich werden. Die farblichen Markierungen geben dem Leser zusätzliche Informationen über die Befindlichkeit oder das Innere der handelnden Person. Ein neutraler Erzähler gibt diese Details nicht preis.

Was kann ein neutraler Erzähler?

Prinzipiell ist ein neutraler Erzähler eine Variante der personalen Erzählperspektive. Allerdings ist er gänzlich im Hintergrund und mischt sich weder wertend noch kommentierend ein.

Demnach wirkt die Geschichte beinahe erzählerlos, was sich vor allem für eine sachliche, berichtende und schnörkellose Darstellung eignet. Der Erzähler ist folglich kaum präsent und der Leser ist mit dem, was er gezeigt bekommt und in Dialogen erfährt, gewissermaßen allein.

Deshalb kommt ein neutraler Erzähler vor allem in szenischen Darstellungen zum Tragen, wie es im obigen Beispiel (Effi Briest) der Fall ist. Der angeführte Dialog steht hierbei für sich, der Erzähler bewertet diesen nicht und der Leser wird somit nicht durch ihn beeinflusst oder gelenkt.

Fazit: Der neutrale erzähler verzichtet also auf die innensicht der Figuren. Diese kann für den Leser nur in Dialogen ersichtlich werden oder durch die beschriebenen Lebenssituationen der Figuren.

Wie wirkt ein neutraler Erzähler?

Natürlich ist es sehr schwierig, einer Erzählperspektive eine eindeutige Wirkung oder Funktion zuzuschreiben. Immerhin können die Perspektiven wechselhaft sein und außerdem laufen wir so Gefahr, das Erzählverhalten auf diese Wirkung zu reduzieren und prüfen nicht, ob es sich tatsächlich so verhält. Dennoch möchten wir einige Hinweise geben.

Im Gegensatz zu den anderen Erzählperspektiven zeichnet sich ein neutraler Erzähler vor allem durch Sachlichkeit aus. Demzufolge ist er mitunter weniger mitreißend, kaum suggestiv und auch kein Verbündeter des Lesers. Er ist neutral und demzufolge kaum zu spüren.

Demnach kann eine nüchterne Stimmung erzielt oder auch eine sachliche Situation geschaffen werden. Der Leser ist es in diesem Fall, der das Geschehen bewerten muss und eben nicht der Erzähler. Allerdings kann dieses Erzählverhalten monoton wirken, weshalb es in einigen Texten – eben dann, wenn das Innenleben eindeutig transportiert werden soll – einen Wechsel in Bezug auf die Erzählperspektive gibt.

Übersicht: Das Wichtigste zum neutralen Erzähler im Überlick


  • Ein neutraler Erzähler ist nicht in der Figurenwelt präsent, sondern zeigt dem Leser nur das, was geschieht, also alle sichtbaren Vorgänge. Alles, was äußerlich nicht sichtbar ist, bleibt auch für den Leser verborgen.
  • Demzufolge wird ein neutraler Erzähler sehr häufig mit dem Begriff des erzählerlosen Erzählens charakterisiert. Hierfür gibt es den Begriff Camera-Eye, der zwar eher aus dem Film stammt, jedoch sehr passend erscheint. Der Erzähler ist also eher ein passives Kamera-Auge.
  • Das neutrale Erzählverhalten kommt häufig zum Einsatz, wenn eine sachliche, nüchterne oder auch schnörkellose Darstellung gewünscht ist. Das liegt daran, dass das Gezeigte prinzipiell wertungsfrei vermittelt und erst durch den Leser belegt wird.
  • Weiterhin ist die neutrale Erzählperspektive eine Sonderform der personalen. Hierbei wird das Handeln der einzelnen Figuren nämlich von außen gezeigt. Allerdings ist es uns – das ist der Unterschied – nicht erlaubt, in den Kopf einer oder mehrerer Figuren zu schauen.
  • Wichtig: Autor und Erzähler sind nicht miteinander gleichzusetzen, da es sich um verschiedene Instanzen handelt. Der Autor hat den Erzähler geschaffen, um die Geschichte zu erzählen. Aber es handelt sich dabei nicht um die gleiche Person. Außerdem gilt der Begriff nur für die Epik. In der Lyrik wird die Stimme des Textes als lyrisches Ich bezeichnet.