Naturalismus

In der deutschen Literaturgeschichte wird die Epoche des Naturalismus auf das Ende des 19. Jahrhunderts datiert. Die Wirklichkeit sollte in der Kunst wirklichkeitsgetreu wiedergegeben werden. Aufgrund der schlechten Lebensbedingungen vor allem der arbeitenden Gesellschaftsschicht hieß das auch, das Hässliche ungeschönt zu zeigen und Kritik an den Folgen der Industrialisierung zu üben. Der Schriftsteller Arno Holz bricht das Prinzip der Literaturepoche auf die folgende kurze Formel herunter: Kunst = Natur – x


Begriff und zeitliche Einordnung des Naturalismus

Der Naturalismus ging als radikale Steigerung beziehungsweise als Protestbewegung aus der vorherigen Epoche des Realismus hervor. Kurz nach Beginn des Naturalismus setzte bereits die Moderne ein. Die Literaturepoche dauerte von 1890 bis 1900 an und leitete sich von dem lateinischen Wort natura”, also Natur, ab. Während sich schon im Realismus eine Hinwendung zur Wirklichkeit vollzog, bildeten deren Vertreter diese Realität mit einer möglichst kunstvollen und poetischen Sprache ab. Im Naturalismus steigerte sich die gewünschte Wirklichkeitsnähe bis zu einer radikalen Darstellung auch des Hässlichen. Da die Lebensumstände, insbesondere der Arbeiterklasse, sehr schlecht zum Ende des 19. Jahrhundert waren, zielten die Naturalisten auch darauf ab, diese sozialen Missstände möglichst sachlich und ungeschönt aufzudecken. Zentren des Naturalismus waren Berlin und München, die als Großstädte mit am stärksten von den Missständen der Epoche betroffen waren.

 

 

Epochen der Literatur als Zeitstrahl

Industrialisierung und ihre Folgen

Um die Jahrhundertwende war die Welt in Aufruhr. Mit der industriellen Revolution und den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritten änderte sich das Leben der Menschen. Große Fabriken wurden in den Städten gebaut, kleine Unternehmen auf dem Land entbehrlich. Es kam zur Landflucht und Verstädterung. Die Arbeit in den städtischen Fabriken war körperlich hart, mit langen Arbeitszeiten und schlechter Bezahlung. Dennoch war der Ansturm auf die Städte so groß, dass es nicht genügend Arbeitsplätze und Wohnungen gab. Arbeits- und Obdachlosigkeit, Armut und Elend waren die Folge. Außerdem spaltete sich die Gesellschaft in die immer besser verdienenden Unternehmer und die hart schuftenden Arbeiter. In den ärmeren Gesellschaftsschichten waren auch Kriminalität, Prostitution und Alkoholismus keine Seltenheit. Neben den neu entstehenden Elendsvierteln änderte außerdem die Verschmutzung durch die Schornsteine der Fabriken zunehmend das Bild der Städte.

Technischer Fortschritt und seine Folgen

Der wissenschaftliche und technische Fortschritt im 19. Jahrhundert hatte nicht nur negative Folgen. Große Erfindungen wie der Dieselmotor, die Dampfturbine oder auch die Schallplatte machten das Leben angenehmer. Güter konnten schneller und günstiger produziert werden. Auch beeinflussten die neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen die Denkweise des Bildungsbürgertums. Charles Darwins Evolutionstheorie, Sigmund Freuds Psychoanalyse und Hippolyte Taines Milieutheorie prägten das Welt- und Menschenbild der Zeit. Der Mensch wurde als ein determiniertes Wesen begriffen, das in seiner Freiheit durch Faktoren wie Gene, Herkunft und Umfeld beschränkt ist. Mit diesen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen verlor der christliche Glaube an Bedeutung. Nicht das Leben im Jenseits, sondern im Hier und Jetzt zählte für die Menschen der Epoche.

Zusammenfassung: Begriff und zeitliche Einordnung des Naturalismus


  • Begriff: lateinischen Wort “natura” = Natur
  • Zeitraum: 1890-1900
  • Einordnung: zwischen Realismus und Moderne
  • Formel: Kunst = Natur – x
  • historischer Kontext: Industrialisierung, Landflucht und Verstädterung, Milieutheorie

Merkmale und Themen des Naturalismus

Der Naturalismus machte die moderne Industriegesellschaft und die Lebenswirklichkeit der Arbeiter zum Thema der Kunst und Literatur. Die Anhänger dieser viel radikaleren Form als des Realismus wollten die Wirklichkeit nicht wie in den Epochen zuvor literarisch verklären, sondern wahrheitsgetreu abbilden. Das Leben des sogenannten Proletariats war durch Arbeitslosigkeit, Armut, überfüllte Wohnungen und Städte und Krankheiten geprägt. Dementsprechend wurde die hässliche Realität mit Fabriken, Hinterhöfen und Kneipen als Schauplätze so exakt wie möglich dargestellt und damit auf die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse aufmerksam gemacht. Die Darstellung des Hässlichen ist ein ganz wesentliches Merkmal des Naturalismus.

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Mit dem Werk zur Entstehung der Arten begründete Naturforscher Charles Darwins die Theorie zur Evolution die auf Variation und natürliche Selektion beruht.
Sigmund-Freuds
Sigmund Freuds Veröffentlichungen über die Traumdeutung und das ich und das Es machten den Arzt zum Begründer der Psychoanalyse.

Ein weiteres Thema des Naturalismus war die Verwissenschaftlichung der Kunst. Durch die großen naturwissenschaftlichen Fortschritte wurde auch die Literatur beeinflusst. Traditionelle Textformen und Regeln galten als veraltet. Stattdessen versuchten Naturalisten ihre Texte objektiv und mit wissenschaftlicher Methodik zu verfassen. Aufzuschreiben war nur das, was mit den Sinnen wahrgenommen werden konnte. Die persönliche Meinung hatte im Werk nichts zu suchen. Mit der von Arno Holz formulierten Formel Kunst = Natur – x wurde dieses Ziel des Naturalismus einfach zusammengefasst. Die Kunst sollte gleich der Natur, also der Wirklichkeit sein. Die Aufgabe der Literatur war es, den Faktor x so klein wie möglich zu halten, also die genaue Abbildung der Wirklichkeit nicht von Faktoren wie der eigenen Meinung beeinflussen zu lassen. Hier spielt auch der Wahrheitsbegriff des Naturalismus eine Rolle. Statt wie im Realismus das Schöne aus der Wirklichkeit herauszuarbeiten, sollten nach ganz wissenschaftlichen Maßstäben allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten formuliert werden. Literarische Experimente wurden zum Beispiel anhand der erwähnten Milieutheorie versucht. Um die Bedeutung des sozialen Umfeldes für die Entwicklung eines Menschen aufzuzeigen, finden sich in den Werken des Naturalismus detaillierte Beschreibungen der Schauplätze. Für diese wurde oftmals der sogenannte Sekundenstil verwendet. Bei diesem typischen Merkmal naturalistischer Literatur ist die Erzählzeit und die erzählte Zeit gleich lang und erlaubt so, jedes kleinste Detail zu erfassen. Mit der Erwähnung kleinster Gesten, Handlungen und Äußerungen, also auch jedem Stottern und Stöhnen, näherten sich die Autoren der mündlichen Alltagssprache an.

Zusammenfassung: Merkmale und Themen des Naturalismus

  • – Lebenswirklichkeit des Proletariats
  • – Darstellung des Hässlichen
  • – Verwissenschaftlichung der Kunst
  • – Wahrheitsbegriff
  • – Milieutheorie
  • – Sekundenstil

Literatur des Naturalismus

Wie bereits die Vertreter des Sturm und Dranges sahen sich auch die Vertreter des Naturalismus als junge Protestgeneration, die auf die Missstände der ärmeren Gesellschaftsschichten hinwies. Um Kritik an den Zuständen zu äußern, brachen die Naturalisten mit bisherigen literarischen Traditionen.

Lyrik des Naturalismus

Lyrik war zur Zeit des Naturalismus kaum bedeutend. Als Traditionsbruch kann hier der Verzicht auf Reimschemen und Metren gesehen werden. Eine beliebte Spielerei der naturalistischen Gedichte war die Zentrierung der Verszeilen, um so Symmetrie und Asymmetrie zu erzeugen. Themen waren auch hier das Leben in der Großstadt mit Armut, Verschmutzung und sozialen Problemen.

Epik des Naturalismus

Epische Kurzformen wurden in der Epoche bevorzugt. Insbesondere Novellen, Skizzen oder kurze Erzählungen eigneten sich für die Naturalisten. Merkmale waren der Sekundenstil sowie innere Monologe, die die Gedanken und Gefühle der Figuren wiedergaben.

Auch in der Erzählung “Bahnwärter Thiel” von Gerhart Hauptmann wird die Wirklichkeit in diesem Stil von Sekunde zu Sekunde wiedergegeben:

“Der Zug wurde sichtbar – er kam näher – in unzählbar sich überhastenden Stößen fauchte der Dampf aus dem schwarzen Maschinenschlote. Da: ein – zwei – drei milchweiße Dampfstrahlen quollen kerzengerade empor, und gleich darauf brachte die Luft den Pfiff der Maschine getragen. Dreimal hintereinander, kurz, grell, beängstigend. Sie bremsen, dachte Thiel, warum nur? Und wieder gellten die Notpfiffe schreiend, den Widerhall weckend, diesmal in langer, ununterbrochener Reihe.” (Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel, Reclam Verlag, Stuttgart 2014, S. 31.)

Dramatik des Naturalismus

Am bedeutendsten für die Epoche des Naturalismus waren dramatische Texte. Den Autoren war es im Drama möglich, die Charaktereigenschaften und das soziale Milieu der Figuren sehr detailliert anhand von beispielsweise sehr genauen Regieanweisungen darzustellen. Auch eine alltägliche beziehungsweise Umgangssprache und sogar Dialekte betonten den Realitätsanspruch. Aufgrund der sehr ausführlichen Bühnenanweisungen erhielten die naturalistischen Dramen einen epischen Bestandteil, wofür sie mitunter kritisiert wurden.

Zusammenfassung: Literatur des Naturalismus

  • wenig Lyrik
  • Bruch mit alten Traditionen, Verzicht auf Reim und Metrum
  • epische Kurzformen: Novelle, Skizze
  • Sekundenstil und innere Monologe
  • Drama am bedeutendsten:
  • detaillierte Charaktere, Milieubeschreibungen, Alltagssprache
  • Regieanweisungen

Vertreter und Werke des Naturalismus

  • Johannes Schlaf Henrik Ibsen (1828–1906): Gespenster (1881)
  • Arno Holz (1863–1929): Die Buch der Zeit (1885)
  •  Emile Zola (1840–1902): Die Erde (1887)
  •  Gerhart Hauptmann (1862-1964): Bahnwärter Thiel (1887/1888)
  •  Johannes Schlaf (1862–1941): Meister Oelze (1892)