Merkmale einer Kurzgeschichte

Kurzgeschichten sind eine der bekanntesten Textformen überhaupt, wobei sich ihr Name von den amerikanischen Short Stories ableitet. Kurzgeschichten zeichnen sich dabei vor allem durch ihre Kürze aus, weshalb wir sie meist anhand ihres sehr komprimierten Inhalts erkennen können. Das bedeutet, dass das Wesentliche verstärkt und konzentriert im Text offenbart wird.


Gerade Schüler werden recht häufig mit Kurzgeschichten konfrontiert, da sie einen wunderbaren und übersichtlichen Einstieg in die Welt der Literatur bieten. Aber auch, wer eine solche Geschichte schreiben möchte, sollte sich grundsätzlich mit den Merkmalen einer Kurzgeschichte befassen.

Die Merkmale einer Kurzgeschichte sind sehr wichtig, um eine Kurzgeschichte analysieren, interpretieren und letzten Endes auch verstehen zu können, da jede Eigenart natürlich eine ganz besondere Funktion hat. Wird eine Geschichte beispielsweise schnell erzählt und springt schlagartig ins Geschehen, hat das auch Auswirkung auf unsere Lesart. Der Text wirkt hektischer und schneller.

Grund genug, einmal ins Detail zu schauen und die wichtigsten Merkmale der Kurzgeschichte herauszustellen, die sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Texte ziehen und anhand derer wir relativ sicher eine Kurzgeschichte von anderen Formen der Epik abgrenzen können.

Merkmale einer Kurzgeschichte

Wir haben uns bei der Darstellung für eine einfache Listenform entschieden. Unter dieser recht griffigen Aufzählung haben wir Ihnen für die einzelnen Merkmale außerdem einige Beispiele versammelt, die wir anhand Borcherst Kurzgeschichte „Die Küchenuhr“ illustrieren.

  • Oftmals ein sehr geringer Umfang der Textlänge ( → Siehe unten)
  • Unmittelbarer Einstieg ins Geschehen, selten eine Einleitung
  • Der Schluss der Kurzgeschichte ist meist offen
  • Selten gibt es Zeitsprünge. Die erzählte Zeit ist chronologisch und linear
  • Wir erfahren wenig über die handelnden Charaktere
  • Die Handlung ist sehr knapp und beschreibt häufig Themen aus dem Alltag der Protagonisten
  • Wenige Protagonisten stehen im Mittelpunkt der Erzählung
  • Das Ende wird von einer Pointe begleitet, also einer überraschenden Wendung
  • Die erzählte Zeit ist sehr kurz. Oft werden nur Minuten oder Stunden betrachtet
  • Die Protagonisten sind häufig Alltagspersonen und keine Helden
  • Ein besonderes Ereignis steht im Mittelpunkt der Geschichte
  • Der Rezipient muss sich das „Drumherum“ anhand von Metaphern oder Leitmotiven erschließen. Erklärende Ausführungen bleiben oftmals aus
  • Orte und Schauplätze sind häufig nicht benannt. Wir erfahren also selten, wo die Kurzgeschichte wirklich spielt
  • Leser soll das Beschriebene selbst beurteilen. Es gibt keine urteilenden Formulierungen
  • Oftmals gibt es keinen auktorialen Erzähler, sondern einen personalen

Kurzgeschichten sind nicht immer kurz!

Zwar begegnen wir in der Schule vornehmlich Kurzgeschichten, die zwischen einer und drei Seiten lang sind, doch ist das nicht immer so. Mitunter finden wir in der Literatur Beispiele solcher Geschichten, die weit über 30 Seiten fassen und dennoch alle Merkmale einer Kurzgeschichte erfüllen.

Hinweis: Natürlich müssen in einer Kurzgeschichte nicht alle angeführten Merkmale vorkommen. Häufig reicht es schon, wenn wir einige dieser Markmale wiedererkennen können, um einen Text eindeutig zu identifizieren. Immerhin scheren sich die wenigsten Autoren darum, einen Text anhand vorgegebener Kriterien zu verfassen. Dennoch finden wir in diesen Merkmalen einen Nenner.

Beispiele für die Merkmale einer Kurzgeschichte

Wir möchten Ihnen anhand der Kurzgeschichte „Die Küchenuhr“ von Wolfgang Borchert einmal die angeführten Merkmale erläutern und grob skizzieren. Immerhin bildet dieser Text oftmals den Einstieg für die Auseinandersetzung in Schulen oder auch Universitäten.

Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug.

Diese Passage bildet den Einstieg in den Text und lässt uns schon viele Merkmale im Aufbau erkennen. Der Einstieg ist plötzlich und bringt den Leser unmittelbar ins Geschehen des Textes. Wir erfahren außerdem nicht, wer die Person ist, die da kommt und von den Protagonisten erkannt wird. Lediglich, dass er männlich und um die zwanzig ist, wobei er wohl älter wirkt.

Aber auch das Ende der Geschichte bleibt offen und endet, wenn Er auf das Sterben der Eltern verweist, mit einer Wendung, also einer Pointe, die uns unmittelbar aus dem Geschehen trägt.

Dann fragte die Frau: Und Ihre Familie?
Er lächelte sie verlegen an: Ach, sie meinen meine Eltern? ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg

Weiterhin finden wir in Borcherts Text keinerlei Hinweise über die Protagonisten, die allenfalls blass erscheinen. Fortlaufend ist von der Frau, ihnen oder ihm die Rede. Dadurch erfahren wir lediglich durch das handeln der Protagonisten, was diese denken oder auch fühlen. Durch den Erzähler wird uns das nicht vermittelt.

Schauen wir außerdem auf die Protagonisten selbst, können wir in Borcherts Kurzgeschichte ein weiteres Merkmal ausmachen: der Text erzählt von einfachen Personen, keinen Helden und beschreibt dabei die Lebenswirklichkeit der Figuren.

Weiterhin gibt es wenige Protagonisten im Text. Grundsätzlich können wir nur den jungen Mann ausmachen und zwei weitere Personen, die beschrieben werden: nämlich die Frau mit dem Kinderwagen und einen Mann. Alle anderen Zuhörer bleiben stumm und werden nicht näher in der Kurzgeschichte beschrieben.

Schauen wir auf die Erzählperspektive, fällt auf, dass es keinen auktorialen Erzähler bei Borchert gibt, der alle Informationen gewissermaßen weiß. Die Kurzgeschichte ist ausschließlich durch Pronomen (Er, Sie) gekennzeichnet, wodurch eine gewisse Distanz aufrechterhalten wird.

Außerdem ist das zentrale Ereignis überschaubar respektive steht nur dieses im Mittelpunkt. Nämlich die Rückkehr des jungen Mannes und die Begegnung mit den anderen Personen, denen er seine Geschichte erzählt. Die Küchenuhr handelt folglich von einem einzelnen Ereignis. Nämlich der Rückkehr aus dem Krieg, wobei wir uns hier schon in den Bereich der Interpretation vorwagen.

Doch auch hier können wir ein weiteres Merkmal der Kurzgeschichte erkennen. Es wird nicht unmittelbar vom Krieg oder der Heimkehr erzählt und dennoch müssen wir annehmen, dass wir es mit dieser Situation zu tun haben. Das können wir anhand von Metaphern erschließen.

Hinweise wären beispielsweise das alte Gesicht des Protagonisten, das zerstörte Heim oder die Frage, ob man alles verloren habe und die anschließende Bejahung.

Sie haben wohl alles verloren?
Ja, ja, sagte er freudig, denken Sie, aber auch alles! Nur sie hier, sie ist übrig. Und er hob die Uhr wieder hoch, als ob die anderen sie noch nicht kannten.


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