Der Nachsommer

Einleitung

Der Roman Der Nachsommer unternimmt das sowohl spannende als auch verhängnisvolle Experiment, eine idyllische Welt ohne Risse, Brüche oder Krisen zu entwerfen. In der durch den österreichischen Schriftsteller Adalbert Stifter entworfenen Literatur-Utopie herrscht eine vollkommene und totale Harmonie, in der die individuellen Lebensvoraussetzungen des Subjekts und die Auseinandersetzung mit Kunst keine Gegensätze darstellen. Vielmehr geht laut Joachim Bark die Kunst im Leben und das Leben in der Kunst auf.

Diese idyllische Konzeption eines idealtypischen Künstlerlebens beruht auf einem schillernden Bildungsideal, das Kunst und Wissenschaft über eine als bürgerlich abgelehnte Erwerbsarbeit stellt. Darüber hinaus gelingt es der Romanfigur Heinrich Drendorf sein Interesse für Kunst und Wissenschaft mit seiner Liebe zur Figur Natalie in Einklang zu bringen.

Inhaltsangabe

Der Roman handelt von der Figur Heinrich Drendorfs, der aus einer wohlhabenden Familie stammt und schon früh durch die vertrauensvolle Bereitschaft seines Vaters über ein stattliches Erbe verfügen kann. Aus diesem Grund ist Heinrich Drendorf nicht auf eine bürgerliche Tätigkeit angewiesen und kann sich vollständig der Kunst und der Wissenschaft widmen. Er bereist viele Länder, was allerdings nur in wenigen Sätzen gestreift wird.

Im Zentrum des Romans steht die seelische Verfassung der Hauptfigur, die umfassend mit der Alpenlandschaft seiner österreichischen Heimat verbunden ist. Während die fernen Kulturstädten Europas Drendorf nicht wirklich interessieren, unternimmt er ausgedehnte Streifzüge in seiner Österreichischen Heimat. Diese zum Teil auch wissenschaftlichen Expeditionen, Drendorf ist unter anderem auch Geologe, werden ausführlich auserzählt.

Eines Tages lernt Heinrich Drendorf den älteren Pensionär Freiherr Gustav von Risach kennen, der wie Drendorf über ein großes Vermögen verfügt und seine Leidenschaft für Kunst und Wissenschaft teilt. Fortan unternehmen sie gemeinsame Streifzüge, schließlich kommt es zur Heirat zwischen Drendorf und der Nichte Risachs Natalie.

Die Beziehung zwischen Drendorf und Natalie spiegelt die Beziehung zwischen Risach und seiner langjährigen Geliebten Mathilde. Während Drendorf und Natalie einer harmonischen Erfüllung ihrer Liebe entgegen sehen, war die Beziehung zwischen Risach und Mathilde nicht von vornherein möglich.

In dem „Rückblick“ überschriebenen Kapitel (3. Band, 4. Kapitel) erläutert Risach seine persönliche Lebensgeschichte, die der Entwicklung Heinrich Drendorfs entgegensteht. Im Gegensatz zur harmonischen Verschränkung der Lebensumstände Drendorfs, gelang es Risach erst spät in seinem Leben jenen idyllischen Zustand der vollkommenen Auflösung aller Konflikte zu erreichen, der so symptomatisch für die poetologische Konzeption des „Nachsommers ist“.

Vor vielen Jahren war Risach als junger Hauslehrer im Dienste eines wohlhabenden Landbewohners tätig. In seiner Funktion als Privatlehrer unterrichtete er die noch minderjährige Mathilde, die spätere Mutter Natalies, und verliebte sich in sie. Auch Mathilde erwiderte seine leidenschaftliche Liebe, jedoch verheimlichten sie ihre Zuneigung vor ihren Eltern. Diese Tatsache steht der von vornherein unproblematischen Liebesbeziehung zwischen Natalie und Heinrich Drendorf entgegen.

Als Risach Mathildes Eltern um die Zustimmung zu einer Hochzeit mir ihrer minderjährigen Tochter bittet, verneinen die Eltern sein Angebot. In einem langen Monolog legt Mathildes Mutter ihre Gründe dar, die hauptsächlich in dem Wunsch bestehen, ihrer jungen Tochter noch mehr Zeit zur Entwicklung zu bieten. Insofern stehen den individuellen Lebensvorstellungen Risachs außer-individuelle äußerliche Widerstände entgegen, die das Glück des Einzelnen verhindern und eine subjektive Erfüllung des persönlichen Lebensglücks unmöglich machen.

Im Gegensatz zu Mathilde akzeptiert Risach die Entscheidung der Mutter. In der Folge gehen sowohl Risach als auch Mathilde ihre eigenen Wege, er wird ein erfolgreicher Staatsbeamter und schließlich sogar in den Adelsstand erhoben. Beide heiraten eher unglücklich, fügen sich aber den als notwendig erachteten Umständen ihrer objektiven Lebenswirklichkeit.

Nach vielen Jahrzehnten treffen sich die beiden ehemals verliebten wieder in einem kleinen Dorf, wo sie fortan in freundschaftlicher Nachbarschaft leben. Diese äußerst gemäßigte, leidenschaftslose Beziehung wird als „Nachsommer“ beschrieben, deren gleichmäßige Vergewisserung der gegenseitigen Liebe dem Roman seinen Titel gibt.

Durch die Bindung zwischen Drendorf und Natalie erscheint es so, als würde sich die verhinderte Liebe zwischen Risach und Mathilde in einer den unglücklich Verhinderten nachfolgenden Generationen realisieren. Das unmögliche Liebesglück wird zwar nicht in der individuell-persönlichen, doch aber in einer dem einzelnen Menschen übergeordneten Gesetzmäßigkeit der idealtypischen Erfüllung von Lebensglück verwirklicht.

Weder Drendorf noch Natalie müssen für ihr Leben ringen, es ist vielmehr so, als ob ein ungeschriebenes, aber wirkmächtiges Gesetz über den Lauf ihrer Leben verfügt, sodass sich durch die Ausgestaltung des persönlichen Bildungsdrangs und einer vollkommen optimistischen Lebenszuversicht ein dem Menschen adäquater harmonischer Zustand einstellt, der das sooft als willkürlich und unglücklich beschriebene In-die-Welt-geworfen-Sein des Menschen befriedet und mit seiner Umwelt in Einklang bringt.

Sprache

Die harmonische Konzeption der Überschneidung der Seelensituation der Romanhelden hat immanenten Einfluss auf die formale und stilistische Ausgestaltung des „Nachsommers“. Die epische Länge des Romans verstärkt die Empfindung einer befriedeten Gleichmäßigkeit („Nachsommer“), deren eindeutige Konstante die Abwesenheit von Konflikten und Brüchen ist.

Die drei Bände des Nachsommers entwerfen ein a-historischen Kontinuum, in der die Figuren außerhalb einer menschlichen oder sozialen Geschichtlichkeit agieren. Die Abwesenheit von zwischenmenschlichen Konflikten, gesellschaftlichen Krisen oder sozialer Ungerechtigkeit ist sprachlich anhand der emotional eintönigen Syntax und den bis in die Banalität abgerundeten Satzstrukturen nachzuweisen, deren oberstes Anliegen die Negation von Auseinandersetzung und Dramatik ist.

Sonstiges

Die literarisch-ästhetische Komposition des „Nachsommer“ weicht in mehrfacherweise von den idealtypischen Kategorien des Bildungsromans ab. Dieser ist zumeist durch das gegenseitige Wechselspiel von individuellen Anschauungen und äußeren Lebensumständen geprägt, in dessen Verhältnis sich der Roman einfügen muss.

Im Bildungsroman ist es gerade das Austarieren zwischen der individuellen Subjektivität des Romanhelden und den als objektiv beschriebenen Welt- und Gesellschaftsumständen, wie zum Beispiel den politischen oder sozialen Rahmenbedingungen die die Möglichkeiten des eigenen gesellschaftlichen Aufstiegs bedingen. Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“.

Dem hingegen wird in Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ diese Konzeptualisierung des Bildungsromans komplett verworfen, negiert und durch die Verfahren der literarischen Behauptung des Selbst unterlaufen. Die Figur Heinrich Drendorfs interessiert sich nicht für nationale oder soziale Probleme, es ist, als ob die äußere Welt der objektiven Lebensumstände im Nachsommer ausgelöscht beziehungsweise durch die Verabsolutierung des inneren Empfindens der Romanfigur überschrieben ist.

Anstelle diese für den Bildungsroman so typische und konfliktreiche Verhandlung zwischen Figur und Außenwelt zu betonen, tritt im „Nachsommer“ die ruhige, sich auf das Kleinste konzentrierende und bis in die Syntax der Sprache absolut konfliktfreie Verknüpfung von Ereignissen in den Vordergrund. Ihr Ziel ist es nicht die Darstellung eines einzelnen, subjektiven Lebensweg darzustellen, sondern die als wesenhaft zu beschreibende Entwicklung eines idealen durch Bildung geformten Menschentums.

Adalbert Stifter

Adalbert Stifter wurde 1805 in Oberplan (Böhmen) geboren. Er ist der Sohn eines Leinwebers. Im Alter von 12 Jahren stirbt sein Vater. Von 1818 bis 1826 besucht er das Gymnasium eines Benediktinerstifts, in dem er früh mit wissenschaftlichen Apparaturen wie zum Beispiel einer Sternwarte in Berührung kommt. Nach seinem Schulabschluss beginnt Stifter Natur- und Rechtswissenschaften zu studieren, allerdings erhält er nie einen Abschluss.

Er verdient sich sein Geld unter anderen als Hauslehrer. Er ist zum Beispiel von dem bekannten Österreichischen Fürsten von Metternich angestellt, der maßgeblich für die politische Regression in der Folge des Wiener Kongresses von 1815 verantwortlich ist. 1837 heiratet Stifter Amalie Mohaupt, nach dem die Beziehung zu seiner Jugendliebe Fanny Greipl unglücklich ausgegangen ist.

In den 1840er Jahren veröffentlicht Stifter seine ersten Erzählungen, darunter „Der Hochwald“, „Abidas“, „Der Hagenstolz“, „Die Mappe“ und viel mehr. Als 1848 in vielen Ländern Europas die Revolution ausbricht, wird er als Wahlmann für die Stadt Wien auf die Nationalversammlung in die Paulskirche nach Frankfurt am Main entsendet. Enttäuscht von der Revolution, zieht er sich maßgeblich ins Private zurück und setzt seine Hoffnung auf die Möglichkeit einer umfassenden sowohl moralischen als ach ästhetischen Erziehung des Menschen.

Er arbeitet als Schulrat für Oberösterreich, verlässt Wien und zieht nach Linz. 1853 wird der Erzählband „Bunte Steine“ veröffentlicht, 1857 der Roman „Der Nachsommer“. Mitte der 1860er Jahre wird Stifter wegen Krankheit pensioniert, er leidet sowohl an einem schweren Leber- als auch an einem Augenleiden. Nach der Veröffentlichung des „Witiko“ 1865-67 stirbt er 1868 wenige Tage nach dem er sich mit einem Rasiermesser die Halsschlagader durchgeschnitten hat.


Stichwortverzeichnis