Als Teichoskopie, auch Mauerschau genannt, wird ein technisches Stilmittel im Drama bezeichnet. Die Teichoskopie meint den Umstand, dass ein Geschehen, das auf der Bühne nicht gezeigt werden kann, dennoch vermittelt wird. Der Kniff ist hier, dass das Geschehen hinter eine Mauer (Hindernis) verlegt wird, die der Zuschauer nicht überwindet. Einige Figuren können alles sehen und berichten davon.
Inhaltsverzeichnis
Begriff
Der Begriff leitet sich aus dem Griechischen ab (τειχοσκοπία ~ teichoskopia) und setzt sich dabei aus τεῖχος für Stadtmauer und σκοπεῖν für beobachten zusammen. Demnach verweist schon die Übersetzung darauf, worum es prinzipiell geht: nämlich um das Beobachten [einer Situation aus erhöhter Position, die für den Zuschauer nicht sichtbar ist] von einer Art Mauer. Diese Mauerschau hat zumeist recht praktische Gründe.
Teichoskopie kommt nämlich immer dann zum Einsatz, wenn Ereignisse eingebunden werden sollen, die auf einer Bühne überhaupt nicht darstellbar wären. Das kann beispielsweise eine gewaltige Schlacht großer Armeen, wütende Naturkatastrophen oder auch Hinrichtungen sowie andere Gräueltaten sein, die für den Zuschauer oftmals nicht zumutbar wären. Mitunter liegt es aber auch an der technischen Umsetzung.
Diese Grafik verdeutlicht das Prinzip. Auf der Mauer steht eine Figur, die das nicht darstellbare Geschehen sehen kann und vermittelt das, was sie sieht, an das Publikum. Der Zuschauer ist also auf das Sichtfeld des Vermittlers beschränkt, da er selbst nicht über die Mauer blicken kann. Im Theater wird das entweder durch eine tatsächliche Mauer realisiert oder durch ein vergleichbares Objekt, das die Sicht versperrt.
Merkmale der Mauerschau
- Der Begriff stammt aus dem Theater und beschreibt den Umstand, dass sich eine Figur, seltener auch mehrere, auf eine erhöhte Positionen begeben und von einem Geschehen berichten, das hinter einer „Mauer“ liegt. Die Begründung ist meist, dass es sich um ein Geschehen handelt, das im Theater ansonsten nicht darstellbar wäre (Schlachten, Ungeheuer, Länder etc.).
- Im Gegensatz zum Botenbericht, der ein vorhergegangenes Ereignis beschreibt, können die Handlung auf der Bühne und das von der Mauer betrachtete durchaus zeitgleich stattfinden. Beide Begriffe können als Form der verdeckten Handlung zusammengefasst werden.
- Sehr häufig ist die Teichoskopie mit einem anderen Moment im Drama verknüpft. Beispielsweise wird durch das Gesehene die Peripetie (Wendepunkt) eingeleitet, die mit der Anagnorisis (das Wiedererkennen; das Erkennen der tatsächlichen Lage) verbunden sein kann. Weiterhin kann die Teichoskopie unmittelbar das Schicksal des Protagonisten beeinflussen.
- Die tatsächliche Wirkung auf die Handlung wird hierbei übrigens nur durch die Reaktionen der Darsteller möglich. Wie reagieren sie auf den Bericht desjenigen, der auf der Mauer steht? Die verdeckte Handlung ermöglicht somit ein zeitgleiches Bestehen von Aktion und Reaktion, da eine Reaktion auf den Botenbericht sichtbar wird oder das Geschehen zeitgleich stattfindet.
- Die Mauerschau zeichnet sich in der Regel durch einen Monolog aus. Das bedeutet, dass eine einzelne Figur spricht, wobei sich das Beschriebene auf die Handlung auswirkt. Mitunter ist allerdings die Dialogform denkbar. Diese besteht dann meist aus Nachfrage und Antwort.
Beispiele der Teichoskopie
In vielen dramatischen Werken wird dieser Kniff angewandt, um das Undarstellbare darzustellen. In einigen Werken sind solche Szenen lang, andere verweisen in prägnanter Kürze auf das Geschehen.
Exemplarisch für die Teichoskopie möchten wir Ihnen drei Beispiele vorstellen. Die nachfolgenden Beispiele stammen aus Goethes Faust, den Phoinikierinnen des Euripides sowie aus Homers Ilias. Das letztgenannte Werk ist außerdem ursächlich für das Stilmittel. Homer machte es durch diesen Kniff möglich, durch Helena, die auf der Mauer steht, das griechische Heer greifbar zu machen. Alle Beispiele sind Auszüge.
Also die Greis‘; und Priamos rief der Helena jetzo:
Komm doch näher heran, mein Töchterchen, setze dich zu mir;
Daß du schaust den ersten Gemahl, und die Freund‘ und Verwandten!
Du nicht trägst mir die Schuld; die Unsterblichen sind es mir schuldig,
Welche mir zugesandt den bejammerten Krieg der Achaier!
Daß du auch jenes Manns, des gewaltigen, Namen mir nennest,
Wer doch dort der Achaier so groß und herrlich hervorprangt!
Zwar es ragen an Haupt noch andere höher denn jener;
Doch so schön ist keiner mir je erschienen vor Augen,
Noch so edler Gestalt; denn königlich scheint er von Ansehn!
Aber Helena sprach, die edle der Fraun, ihm erwidernd:
Ehrenwert mir bist du, o teurer Schwäher, und furchtbar
Hätte der Tod mir gefallen, der herbeste, ehe denn hieher
Deinem Sohn ich gefolgt, das Gemach und die Freunde verlassend,
Und mein einziges Kind, und die holde Schar der Gespielen!
Doch nicht solches geschah; und nun in Tränen verschwinde ich!…
Jetzo will ich dir sagen, was du mich fragst und erforschest.
Jener ist der Atreide, der Völkerfürst Agamemnon,
Beides, ein trefflicher König zugleich, und ein tapferer Streiter.
Lynkeus der Türmer (auf der Schlosswarte singend).
Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.
Ich blick’ in die Ferne,
Ich seh’ in der Näh’
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh ich in allen
Die ewige Zier,
Und wie mir’s gefallen,
Gefall’ ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön! (Pause.)
Nicht allein mich zu ergötzen,
Bin ich hier so hoch gestellt;
Welch ein gräuliches Entsetzen
Droht mir aus der finstern Welt!
Funkenblicke seh’ ich sprühen
Durch der Linden Doppelnacht;
Immer stärker wühlt ein Glühen,
Von der Zugluft angefacht.
Ach! Die innre Hütte lodert,
Die bemoost und feucht gestanden;
Schnelle Hilfe wird gefordert,
Keine Rettung ist vorhanden.
Ach! Die guten alten Leute,
Sonst so sorglich um das Feuer,
Werden sie dem Qualm zur Beute!
Welch ein schrecklich Abenteuer!
Flamme flammet, rot in Gluten
Steht das schwarze Moosgestelle;
Retteten sich nur die Guten
Aus der wildentbrannten Hölle!
Züngelnd lichte Blitze steigen
Zwischen Blättern, zwischen Zweigen;
Äste dürr, die flackernd brennen,
Glühen schnell und stürzen ein.
Sollt ihr Augen dies erkennen!
Muss ich so weitsichtig sein!
Das Kapellchen bricht zusammen
Von der Äste Sturz und Last.
Schlängelnd sind mit spitzen Flammen
Schon die Gipfel angefasst.
Bis zur Wurzel glühn die hohlen
Stämme, purpurrot im Glühn. –
ANTIGONE aus dem Inneren:
Streck hin doch, streck hin deine Greisenhand
der Jungfrau, herab von der Leiter,
hilf meinem Schritte hinauf!
ERZIEHER:
Da, Mädchen, faß! Zur rechten Zeit bist du gekommen;
denn in Bewegung setzt sich das Pelasgerheer,
sie ziehen auseinander die Abteilungen.
ANTIGONE tritt auf das Dach:
Ehrwürdige Tochter der Leto, Hekate,
vom Erze funkelt das ganze Feld!
ERZIEHER:
Jawohl, mit starker Macht rückt Polyneikes an,
umdröhnt von vielen Rossen, ungezählten Waffen.
ANTIGONE:
Sind fest die Tore verschlossen – die ehernen Riegel
dem steinernen Mauerbau Amphions eingefügt?
ERZIEHER:
Getrost! Die Stadt behütet fest ihr Inneres.
Doch auf den ersten schau, willst du ihn kennenlernen!
ANTIGONE:
Wer ist denn der mit dem leuchtenden Helmbusch,
der vorn, an der Spitze des Heeres, dahinzieht,
leicht schwingend den ehernen Schild auf der Schulter?
ERZIEHER:
Ein Hauptmann, Herrin.
ANTIGONE:
Wer ist ’s? Und wo stammt er her?
So sag mir, Alter: Welchen Namen trägt er denn?
ERZIEHER:
Der stammt, so heißt es, aus Mykenai, und wohnt am
lernaischen Gewässer, Fürst Hippomedon.
ANTIGONE:
Ach, ach! Wie stolz, wie furchtbar zu schauen,
dem erdgeborenen Riesen ähnlich,
mit Augen wie Sterne, wie aufgemalt,
so gar nicht entsprechend dem Eintagsgeschlecht!