- »Nun geht, Graf Otto! Zum drittenmal
- Erduldetet ihr die Folterqual
- Und habt sie, wie keiner, bestanden.
- Wohlan denn! Reinigt Euch ganz vom Verdacht,
- Als hättet den Ohm1 Ihr umgebracht
- Aus Gier nach Schätzen und Landen!
- Drei Stunden harret mit festem Mut
- Allein an der Bahre2, darauf er ruht;
- Entquillt den Wunden alsdann kein Blut,
- So lösen wir Euch aus den Banden.«
- Drauf Otto: »Ich scheue die Probe nicht;
- Kommt, daß ich allen wie Sonnenlicht
- So klar meine Unschuld mache!«
- Er spricht’s; ihn führen die Schöffen den Gang
- Zur Totenkammer schweigend entlang;
- Durch die Thür ein läßt ihn die Wache.
- Davor wird wieder gewälzt der Stein,
- Und der Graf bei flimmerndem Lampenschein
- Bleibt mit des Herzogs Leiche allein
- Im schwarzbehängten Gemache.
- Da liegt der Greis, der einst ihn erzog
- Und mild des verwaisten Knappen pflog,
- Da liegt er vor ihm auf der Bahre;
- Sein Antlitz, drauf einst Liebe wie Haß
- So mächtig geflammt, nun welk und blaß,
- Umflossen vom weißen Haare.
- Graf Otto steht in Sinnen versenkt;
- Nicht mehr, wie schwer ihn der Tote gekränkt,
- Als er ihm die Tochter versagt, nun denkt
- Er nur an die glücklichen Jahre;
- Denkt, wie er zuerst mit Schwert und Schild
- Zur Seite des Ohms aufs Schlachtgefild
- Gesprengt durch das Waffengeblitze;
- Und wie, als er selber im Kampfe verzagt,
- Sein eigenes Leben der Herzog gewagt,
- Damit er den Knappen beschütze.
- Er denkt es; ihm deckt die Augen ein Flor;
- Blut, glaubt er, quill‘ aus den Wunden hervor,
- Das, Gottes Rache heischend, empor
- Zur Wölbung der Kammer spritze.
- Noch steht in stummem Starren der Graf;
- Da ist ihm, als säh‘ er vom Todesschlaf
- Den Greis sich langsam erheben,
- Als schlag‘ er die Augenlider zurück
- Und schau‘ ihn an mit dem alten Blick,
- Nur finsterer als im Leben.
- Graf Otto taumelt zurück mit Graun;
- Er wankt, doch kann er hinweg nicht schaun;
- Kalt auf die Stirne fühlt er es taun
- Und den Boden unter sich beben.
- An der Bahre liegt er dahingestreckt,
- Als Stimmenruf aus dem Starren ihn weckt;
- Schon sind verronnen die Stunden.
- Die Richter treten in das Gemach
- Und forschen nach Sitte des Bahrrechts nach,
- Ob Blut entquollen den Wunden.
- Sie rufen: »Glückauf! Kein Tropfen floß!
- Glückauf, Graf Otto, besteigt Eur Roß;
- In Frieden kehrt heim nach Windeckschloß!
- Unschuldig seid Ihr befunden.«
- Wohl hört der Verklagte der Richter Wort;
- Stumm aber liegt er fort und fort
- Zu des schweigenden Klägers Füßen;
- Glückwünschend strömen die Diener herbei:
- »Was zögert Ihr, Herr? Ihr seid nun frei!«
- Doch achtet er nicht ihr Grüßen.
- Auf springt er und ruft, aus dem Brüten erwacht:
- »Ich habe den Oheim umgebracht
- Und heische das eine: noch diese Nacht
- Die Strafe des Mordes zu büßen.«
[1] Kurzform von Oheim, veraltete Bezeichnung für den Onkel mütterlicherseits.
[2] für die Trauerfeier vorgesehenes Gestell, auf dem, während dieser, der (zumeist eingesargte) Leichnam liegt
[3] Name verschiedener Gottheiten; auch: Dämon
[4] Gotteslästerung
[5] Pläsier ist ein altes Wort für Vergnügen.
[6] in der griechischen Mythologie der Sohn des Daidalos
[7] lat. Wunder
[7] veraltetes Wort für necken oder ärgern.
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Der oben stehende Gedichttext orientiert sich an der Schreibung Detlev von Liliencrons. Folglich haben wir die Rechtschreibung nicht angepasst und sämtliche Einrückungen des Autors beibehalten.
Inhaltsverzeichnis
Erläuterungen
Hintergrund
Die Ballade Das Steinkreuz am Neuen Markt von Detlev von Liliencron erzählt vom unglaublichen Schicksal eines Musikers, der betrunken auf einem Kirchturm musiziert, hinabfällt und durch Gott vom Tod bewahrt wird und daraufhin dem Alkohol abschwört.