Das Gewitter

    1. Urahne, Großmutter, Mutter und Kind,
    2. In dumpfer Stube beisammen sind;
    3. Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,
    4. Großmutter spinnet, Urahne gebückt
    5. Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl –
    6. Wie wehen die Lüfte so schwül!

 

    1. Das Kind spricht: „Morgen ist’s Feiertag,
    2. Wie will ich spielen im grünen Hag,
    3. Wie will ich springen durch Thal und Höh’n,
    4. Wie will ich pflücken viel Blumen schön;
    5. Dem Anger, dem bin ich hold!“ –
    6. Hört ihr’s, wie der Donner grollt?

 

    1. Die Mutter spricht: „Morgen ist’s Feiertag,
    2. Da halten wir alle fröhlich Gelag,
    3. Ich selber, ich rüste mein Feierkleid;
    4. Das Leben es hat auch Lust nach Leid,
    5. Dann scheint die Sonne wie Gold!“ –
    6. Hört ihr’s, wie der Donner grollt?

 

    1. Großmutter spricht: „Morgen ist’s Feiertag,
    2. Großmutter hat keinen Feiertag,
    3. Sie kochet das Mahl, sie spinnet das Kleid,
    4. Das Leben ist Sorg’ und viel Arbeit;
    5. Wohl dem, der that, was er sollt’!“ –
    6. Hört ihr’s, wie der Donner grollt?

 

    1. Urahne spricht: „Morgen ist’s Feiertag,
    2. Am liebsten morgen ich sterben mag:
    3. Ich kann nicht singen und scherzen mehr,
    4. Ich kann nicht sorgen und schaffen schwer,
    5. Was thu’ ich noch auf der Welt?“ –
    6. Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?

 

  1. Sie hören’s nicht, sie sehen’s nicht,
  2. Es flammet die Stube wie lauter Licht:
  3. Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
  4. Vom Strahl miteinander getroffen sind,
  5. Vier Leben endet ein Schlag –
  6. Und morgen ist’s Feiertag.

*) Am 30. Juni 1828 schlug der Blitz in ein von zwei armen Familien bewohntes Haus der württembergischen Stadt Tuttlingen, und tötete von zehn Bewohnern desselben vier Personen weiblichen Geschlechts: Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin, die erste 71, die letzte 8 Jahre alt. Siehe Schwäb. Merkur, 8. Juli 1828, Nr. 163. (Anm. Schwabs in der 1. Aufl. der Gedichte.)

Erläuterungen

Hintergrund

Die Ballade Das Gewitter von Gustav Schwab entstand im Jahr 1828 und wurde als Reaktion auf ein Unglück verfasst, das sich im kleinen Tuttlingen im Sommer des gleichen Jahres ereignete. Ein Blitz schlug in ein Haus ein und tötete am Morgen des 30. Junis zwischen 7 und 8 Uhr vier Menschen – Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin.

Schwab nahm durch eine Zeitungsnotiz vom Unglück Kenntnis und verfasste daraufhin das sechsstrophige Werk, das ursprünglich den Titel Der Feiertag trug, unter dem es im Morgenblatt für gebildete Stände einige Monate später veröffentlicht wurde.

Dennoch wurde es im Laufe des Jahrhundert als Das Gewitter populär und findet sich unter diesem Titel und in oben stehender Form auch in zahlreichen Lesebüchern der Grundschulen des endenden 19. sowie beginnenden 20. Jahrhunderts wieder.

Die Ballade erzählt vom Schicksal der Opfer, wobei Tod und Leben kontrastiert werden. So zeigt das Gedicht die Pläne und Vorhaben der einzelnen Protagonisten, nur um ebendiesem Streben in der letzten Strophe Einhalt zu gebieten und alles einem Schlag zu beenden.


Stichwortverzeichnis