Prinz Friedrich von Homburg

Einleitung

„Prinz Friedrich von Homburg“ ist ein Drama des Schriftstellers Heinrich von Kleist. Es wurde zwischen 1809 und 1810 geschrieben, aber erst 1821 uraufgeführt.

In dem Stück veranschaulicht Kleist den Konflikt zwischen der Verantwortung des Einzelnen und der Pflicht vor einem übergeordneten Gesetz. Dieser Kampf wird insbesondere durch die beiden Begriffe Insubordnination und Subordination ausgedrückt, wobei das Wort „subordonatio“ aus dem Lateinischen kommt und soviel meint wie „sich einem Gesetz unterwerfen“.

In der Schlacht bei Fehrbellin 1675, in der Brandenburg gegen Schweden kämpft, missachtet Prinz Friedrich von Homburg den zuvor erhaltenen Befehl seines Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg und macht sich somit der Insubordination (Befehlsverweigerung) schuldig.

Durch die Missachtung des Befehls hat der Prinz seine Befugnisse übertreten und den Gewinn der Schlacht in Gefahr gebracht, weswegen er unter Verweis auf das Kriegsrecht angeklagt und zum Tode verurteilt wird.

Tatsächlich hat der Prinz seine Reiter zu früh in die Schlacht geworfen und nicht erst als mehrere Brücken zerstört waren, die den fliehenden Schweden jeglichen Rückzug unmöglich gemacht hätten. Durch das eigenmächtige Handeln des Prinzen wurde es also versäumt, den Feind endgültig zu schlagen. Von diesem Moment an steht das (Fehl-)Verhalten des Prinzen gegen die Ordnung der Kriegsherren um Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg.

Insbesondere durch das Wirken der Nichte des Kurfürsten, der Prinzessin Natalie von Oranien, schwächt der Kurfürst sein Urteil ab und verlangt nun mehr nur noch, dass der Prinz seine Schuld und das gegen ihn erhobene Todesurteil anerkennt. Dieser bejaht die Notwendigkeit seines Todes, da ansonsten eine Unordnung herrschen würde.

Der Prinz Friedrich von Homburg hat eine Wandlung erfahren, weswegen das Todesurteil gegen ihn – ohne sein Wissen – aufgelöst wird. Das Stück endet mit der Huldigung des Prinzen – der seine Hinrichtung erwartete – und der Aussicht einer Hochzeit zwischen ihm und der Prinzessin Natalie.

Inhaltsangabe

ERSTER AKT

Prinz Friedrich von Homburg schläft im Garten des Schlosses Fehrbellin, weswegen er den Abmarsch seiner Truppen in den Kampf verpasst hat. Mehr noch: Er träumt und stellt sich den Ruhm vor, den er nach einer erfolgreichen Schlacht gewinnen könnte. Schlafwandelnd flechtet er einen Lorbeerkranz, Zeichen des Ruhms und der Ehre. Das Verhalten des Prinzen verstört die übrige Hofgesellschaft.

Insbesondere der Kurfürst Friedrich Wilhelm, seine Frau die Kurfürstin, ihre Nichte die Prinzessin Natalie von Oranien und der Graf von Hohenzollern beobachten den träumenden Prinzen und beschließen, sich einen Scherz mit ihm zu erlauben.

Der Kurfürst nimmt dem Prinzen den Lorbeerkranz aus der Hand und bindet eine wertvolle Kette um ihn, die er zuvor um seinen Hals getragen hat. Auf seinen Befehl nähert sich die Prinzessin dem Prinzen, weicht aber von diesem zurück als er nach dem Kranz mit der Kette zu greifen sucht.

Allerdings bekommt er den Handschuh der Prinzessin zu fassen, der von den Anderen auch nicht eingesammelt wird. Er gilt nunmehr als Liebespfand zwischen Prinz und Prinzessin. Auf Geheiß des Kurfürsten verlässt die Gesellschaft den Prinzen.

Er verbietet den Beteiligten ebenfalls über das Geschehene zu sprechen, sodass der Prinz aufwacht und sich fragt, von wem der Handschuh sei. Vom Grafen geweckt, ist es ihm nicht möglich zwischen Traum und Realität zu unterscheiden.

Da sich der Kurfürst von Brandenburg im Krieg mit den Schweden befindet, wird das Schloss auf den bevorstehenden Angriff vorbereitet. Die Prinzessin und die Kurfürstin werden evakuiert. Alsbald gibt der Feldmarschall Dörfling seinen Schlachtplan begannt, dem der Prinz von Homburg allerdings nur mit geringer Aufmerksamkeit folgt.

Er ist in Gedanken verloren und träumt erneut. Als er bemerkt, dass die Prinzessin den Handschuh vermisst, versucht er ihn ihr zukommen zu lassen. Aus diesem Grund versteht er nicht, dass er in dem bevorstehenden Kampf seine Reiter erst auf Befehl des Kurfürsten zum Angriff führen soll.


ZWEITER AKT

Auf dem Schlachtwild wird der Prinz von dem Obrist Kottwitz erwartet, der dem Prinzen von Homburg sehr treu ergeben ist. Doch der Prinz erscheint nicht auf dem Schlachtfeld. Es wird vermutet, dass er einen Unfall erlitt. Dieses wird jedoch von dem Graf und dem Kurfürsten verneint. Kurz darauf erscheint der Prinz mit einer Verletzung an der Hand.

Erleichtert über seine Ankunft wiederholt Kottwitz die vom Feldmarschall entwickelte Strategie des Angriffs, die der Prinz allerdings immer noch nicht versteht. Während des Kampfes ist der Prinz nahezu orientierungslos, ohne Schlachtplan und inmitten eines großen Getümmels möchte er dennoch in das Kriegsgeschehen eingreifen. Deswegen befiehlt er seiner Reiterei ohne vorherigen Befehl des Kurfürsten in das Geschehen einzugreifen.

Im Unterschied zu ihrem Anführer haben die Soldaten des Prinzen den entwickelten Schlachtplan sehr wohl verstanden und wehren sich gegen den Befehl ihres Anführers. Dieses verwirrt den Prinzen nur noch mehr, sodass er einige seiner Offiziere verhaften lässt. Daraufhin befiehlt der Prinz ohne zuvor den Befehl des Kurfürsten erhalten zu haben den Angriff auf die Schweden.

Es scheint zuerst, als sei der Kurfürst in der Schlacht gefallen. Seine Frau, die von einer Reise zurück kommt, fällt bei dem Erhalt der Todesnachricht in Ohnmacht. Der Prinz kümmert sich in dieser Situation um die vermeintliche Witwe und die Prinzessin Natalie. Er erklärt, dass er den Kampf des Kurfürsten gegen die Schweden weiter führen werde.

Gleichzeitig macht er der verzweifelten Natalie, für die er seit dem Scherz zu Beginn des Dramas eine Liebe entwickelt hat, einen Heiratsantrag. Bald erreicht sie die Nachricht, dass der Kurfürst nicht gefallen ist. Der Rittmeister Graf von Sparren berichtet, dass der Stallmeister Froben den auffälligen Schimmel des Kurfürsten geritten hat. Dieses Täuschungsmanöver rettete dem Kurfürsten das Leben.

Währen sich bei den Friedensverhandlungen in Berlin der Prinz als Held feiern lässt, verurteilt der Kurfürst das eigenmächtige und zu frühe Angreifen der Reiterei. Er verlangt einen Schuldigen und fordert seinen Tod, denn der Gehorsam seiner Soldaten ist ihm äußerst wichtig. Durch die Missachtung des Befehls hat der Prinz seine Befugnisse übertreten und den Gewinn der Schlacht in Gefahr gebracht.

Der ursprüngliche Plan sah vor, nicht nur die Schlacht, sondern den ganzen Krieg zu gewinnen. Tatsächlich hat der Prinz seine Reiter zu früh in die Schlacht geworfen und nicht erst als mehrere Brücken zerstört waren, die den fliehenden Schweden jeglichen Rückzug unmöglich gemacht hätten. Durch das eigenmächtige Handeln des Prinzen wurde es also versäumt, den Feind endgültig zu schlagen. Während sich der Prinz noch als Held feiern lässt, wird er verhaftet.


DRITTER AKT

In einer Gefängniszelle des Schlosses Fehrbellin wartet der Prinz auf seine Freilassung. Er glaubt, dass der Kurfürst auf seiner Seite steht. Der Graf Hohenzollern berichtet ihm allerdings, dass das Todesurteil gegen ihn verhängt sei. Außerdem sei geplant Natalie mit einem Schweden zu vermählen, weswegen eine Begnadigung des Prinzen nicht zu erwarten sei. Er sucht die Kurfürstin auf, um sie um Gnade zu bitten.

Auf dem Weg zu ihr sieht et ein für ihn vorbereitetes Grab. In der berühmten „Todesfurcht“ Szene wirft sich der Prinz der Kurfürstin zu Füßen und bittet sie um Gnade. Für sein Leben sei er bereit auf alles, auch auf Natalie zu verzichten. Sowohl die Kurfürstin als auch Natalie zeigen sich Ergriffen von dem Flehen des Prinzen und versprechen sich für ihn beim Kurfürsten einzusetzen. Die Kurfürstin rät ihm allerdings auch, sein Schicksal zu akzeptieren. Mit einiger Hoffnung kehrt der Prinz von Homburg ins Gefängnis zurück.


VIERTER AKT

Die Prinzessin und der Kurfürst streiten über ihre Meinungen zu dem Todesurteil gegen den Prinzen. Natalie versucht das Verhalten des Prinzen mit Verweis auf seine Jugend gegenüber ihrem Onkel zu rechtfertigen. Der Kurfürst interessiert sich aber vor allem für den Erhalt von Recht und Ordnung. Er müsse gerade in diesem Fall Stärke zeigen, was seine Nichte verneint.

Ihrer Meinung nach würde sein Land Brandenburg keinen Schaden nehmen, wenn er den Prinzen begnadigen würde. Sie berichtet ebenfalls von der Todesangst des Prinzen, die den Kurfürsten zu verwirren scheint. Von den Argumenten der Prinzessin überzeugt, zeigt sich der Kurfürst gewillt das Todesurteil gegen den Prinzen unter einer Bedingung aufzuheben. Dieser solle in einer Befragung das Todesurteil gegen ihn als ungerecht zurückweisen. Er setzt ein Schreiben auf, dass Natalie überbringen soll.

Gleichzeitig versuchen auch mehrere Offiziere sich für eine Begnadigung einzusetzen. Der Graf Reuss bittet die Prinzessin ein an ihren Onkel gerichtetes Gnadengesuch zu unterschreiben. Natalie versucht den Obristen Kottwitz nach Fehrbellin zu bringen, damit dieser als Fürsprecher des Prinzen auftreten kann.

In seiner Gefängniszelle folgt der Prinz seinen Gedanken über die Vergänglichkeit des Lebens. Seine Gedanken werden von der Prinzessin unterbrochen, die ihm den Brief des Kurfürsten übergibt. Doch in dem Prinzen hat eine Wandlung stattgefunden, sodass dieser nunmehr von der Gerechtigkeit seines Todesurteils überzeugt ist und „mannhaft“ gedenkt, die gegen ihn verhängte Strafe zu akzeptieren. Dieses überrascht Natalie auf gleiche Weise, wie sie ebenso von dem plötzlichen Edelmut des Prinzen angetan ist.


FÜNFTER AKT

Der dem Prinzen treu ergebende Obrist Kottwitz ist mit seinen Truppen auf dem Schloss angekommen. Der Kurfürst sieht sich nun von so vielen Seiten unter Druck gesetzt, dass er das Todesurteil gegen den Prinzen aufzuheben bereit ist. Der Feldmarschall berichtet, dass er bei einer Hinrichtung des Prinzen ein Aufbegehren der Truppen nicht ausschließen könnte.

In diesem Moment erfährt der Kurfürst, dass der Prinz den Gnadengesuch abgelehnt hat und für das Gesetz zu sterben bereit ist. Der Kurfürst veranlasst danach alles für die bevorstehende Hinrichtung, plant aber nicht den Prinzen tatsächlich umzubringen. In einer Diskussion machen Kottwitz und Hohenzollern den Kurfürsten für die Fehler in der Schlacht verantwortlich, denn so sei auf seine Idee hin in der Nacht vor der wichtigen Besprechung ein Streich mit dem Prinzen gespielt worden (Zu Beginn des 1. Akts).

Laut Kottwitz zählt nur der Sieg in der Schlacht und dieser sei dank des Prinzen errungen worden. Als der Prinz aus dem Gefängnis geführt wird, ist er ergriffen von der Solidarität seiner Offiziere. Er ist dennoch bereit, sich dem Todesurteil zu beugen, damit der Kampf gegen die Schweden fortgesetzt werden kann. Im Garten des Schlosses wartet der Prinz mit verbundenen Augen auf seine Hinrichtung.

Wie zu Beginn des Dramas wird ihm allerdings erneut vom Kurfürsten ein Streich gespielt, der den überraschten Prinzen nun vollkommen begnadigt. Vielmehr noch wird er für sein Verhalten in der Schlacht von dem Kurfürsten und der Prinzessin geehrt. Zusammen schmiedet man neue Pläne zur Erweiterung des Ruhms von Brandenburgs. Am Ende des Stückes hat der Prinz all die Ehre erhalten, von der er zu Beginn des Dramas geträumt hat.

Figuren

  • Friedrich Wilhelm; Kurfürst von Brandenburg
  • Die Kurfürstin
  • Prinzessin Natalie von Oranien; seine Nichte, Chef eines Dragonerregiments
  • Feldmarschall Dörfling
  • Prinz Friedrich Arthur von Homburg; General der Reiterei
  • Obrist Kottwitz; vom Regiment der Prinzessin von Oranien
  • Hennings; Oberst der Infanterie
  • Graf Truchß; Oberst der Infanterie
  • Graf Hohenzollern; von der Suite des Kurfürsten
  • Rittmeister von der Golz
  • Graf Georg von Sparren; Rittmeister
  • Stranz; Rittmeister
  • Siegfried von Mörner; Rittmeister
  • Graf Reuß; Rittmeister
  • Ein Wachtmeister
  • Offiziere, Korporale und Reiter. Hofkavaliere. Hofdamen. Pagen. Heiducken. Bediente. Volk jeden Alters und Geschlechts.

Zeit

Der historische Kampf zwischen Brandenburg und Schweden ist insofern von Interesse, weil er einen derjenigen erfolgreichen Kriege illustriert, die die Auferstehung Preußens als Hegemonialmacht in Europa im 18. und 19. Jahrhundert erst möglich machen.

Der preußische Dichter Heinrich von Kleist bearbeitet in dem Stück „Prinz Friedrich von Homburg“ also nichts anderes als einen Gründungsstoff seines preußischen Vaterlandes. Seinen Landsleuten allerdings missfiel die Art und Weise, in der Kleist den historischen Stoff umsetzte.

So erleidet der Prinz von Homburg am Ende des Ersten Aufzugs des Dritten Aktes einen Angstanfall, weil er sich vor dem Tod fürchtet („O Freund! Hilf, rette mich! Ich bin verloren!“). Ebenso erniedrigt sich der Soldat vor der Kurfürstin im Fünften Auftritt des Dritten Aktes, indem er sie um Gnade anfleht. Auf dem Weg zu ihr hatte er das für ihn bereitete Grab erblickt.

In der preußischen „Soldatenmännerwelt“ zu Beginn des 19. Jahrhundert kam das Jammern des Prinzen nicht gut an, weswegen das Stück bereits drei Tage nach der Premiere abgesetzt wurde.

Sonstiges

Dass dem Schriftsteller Kleist erst spät Anerkennung zuteil wurde, liegt insbesondere auch an Goethes nachteiligen Urteil über ihn. Es scheint, als hätten den umstrittenen Dichter die Menschen aus des 20. Jahrhunderts besser verstanden, als seine Zeitgenossen. Diese waren von Kleists Dichtung verstört.

Auch damals war es bereits leichter, dem was man nicht versteht mit Ablehnung als mit wahrhaftigen Interesse zu begegnen. Dabei ist es aber gerade die emotionale Tiefe (bis in die Brutalität), die abwegige Uneindeutigkeit (bis in den Widerspruch) und die Hinterfragung der dichterischen Möglichkeit (bis in den Selbstmord), die Kleist zu einem Wegbereiter der modernen Literatur machen.

Aus diesen (und vielen weiteren) Gründen ist einer der wichtigsten Literaturpreise in Deutschland nach dem Preußischen Adligen benannt, der in seiner Zeit bereits Dramen für die unsrige schrieb. Der Kleist Preis wird einmal im Jahr vergeben. Preisträger sind u.a. Daniel Kehlmann (2006), Navid Kermani (2012) und Marcel Beyer (2014).

Heinrich von Kleist

Heinrich von Kleist hat seine Eltern früh verloren und wuchs deswegen in schwierigen Verhältnissen auf. Bis zu seinem Freitod am 22. März 1811 scheiterte er sowohl persönlich als auch beruflich (z.B. als Herausgeber einer Zeitschrift) mehrere male. Nichtsdestotrotz stammt er aus einer sehr angesehenen Adelsfamilie Preußens.

Seine Heimatstadt ist Frankfurt an der Oder. Mit 14 Jahren trat er in das Vorzeigeregiment „Garde“ ein und beteiligte sich auf Seite der Preußen an dem Ersten Koalitionskrieg 1793-75 gegen die Französische Armee Napoleons. Es heißt, dass er in dieser Zeit mit der Literatur der Aufklärung in Kontakt gekommen ist. In der Armee erlebte er aber auch den Konflikt zwischen der individuellen Freiheit und der Pflichterfüllung (man denke an das Drama um den Prinzen Friedrich von Homburg).

So stammten zahlreiche hoch dekorierte Offiziere aus seiner Familie, er aber entfloh dem Militärdienst, um sich als Gelehrter oder Schriftsteller einen Namen zu machen. Mit diesem Entschluss enttäuschte er seine Familie. Kleist fand keine Anerkennung unter den Schriftstellern seiner Zeit, vor allem die Lichtgestalten der Weimarer Klassik Goethe und Schiller äußerten sich mehrfach kritisch zu ihm.

Letztendlich erschoss Kleist zuerst die schwerkranke Henriette Vogel am Ufer des Wannsees bei Berlin (oder sie erschoss sich selbst – die Umstände sind bis heute ungeklärt!) und danach sich selbst.

Zusammen mit den Schriftstellern Jean Paul und Hölderlin bildet Kleist eine Gegenklassik, also eine Literatur die sich der herrschenden idealistischen Tradition seiner Zeitgenossen widersetzt und einen eigenständigen Wert besitzt. Die letztendliche Bedeutung Kleist wurde erst lange nach seinem Tod erkannt.

In einem Brief an seine Schwester Ulrike vom 05. Februar 1801 klagt Kleist darüber, dass die Sprache nicht dazu tauge, die Seele zu malen. Es ließen sich nur zerrissene Bruchstücke abbilden. In dieser kritischen Hinterfragung der dichterischen Möglichkeit ist Kleist den Schriftstellern des 20. Jahrhunderts ähnlicher als seinen Zeitgenossen (z.B. Hugo von Hofmannsthal, der dasselbe Problem in seinem Prosa-Werk „Ein Brief“ behandelt).

Bei der Behandlung von Kleist-Texten gilt es (wie bei jedem literarischen Text) noch genauer hinzuschauen, wie der Verweis auf die Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“ von 1811 unterstreicht. Inmitten einer starken emotionalen Erregung ändert sich der Name der Hauptfigur Gustav in August, einem Anagramm desselben Namens.

In den weitverbreiteten Hamburger Leseheften wird dieser poetologische Kunstgriff als Fehler des Autors übergangen und auch vielen Lesern fällt der einmalige Namenswechsel der Hauptfigur nicht auf. Tatsächlich verdeutlicht aber gerade das Durcheinander-Wirbeln der Buchstaben die Zerrüttung des literarischen Charakters.

Hier wird ersichtlich, dass es Kleist insbesondere um die Wiederbelebung einer Spontanität geht, die durch den zivilisatorischen Prozess der Moderne verloren gegangen ist. In Bezugnahme auf dem Brief an seine Schwester kann davon ausgegangen werden, dass es Kleist um die spontane Darstellung seiner Seele mit den Mitteln der Sprache gegangen ist und seine Dichtung in einem großen Maß vom Affekt bestimmt ist: Der Dichter ringt um die Zur-Schau-Stellung seiner Seelenwelt.


Stichwortverzeichnis