Die Erzählzeit ist ein Begriff aus der Erzähltheorie. Als Erzählzeit wird die Zeitspanne bezeichnet, die dafür erforderlich ist, ein episches Werk zu lesen oder zu erzählen. Ganz allgemein kann als Erzählzeit die Zeit gelten, ein künstlerisches Werk zu lesen, zu hören oder auch zu sehen. Das Pendant ist die erzählte Zeit. Sie meint den Zeitumfang, über den sich die Handlung erstreckt.
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Erzähltempo
Die Erzählzeit ist für den Erzähler demnach die Zeit, die er braucht, um seine Erzählung darzubieten. Für den Empfänger (Leser, Zuhörer) ist es die Zeit, die er benötigt, um den Text zu lesen oder zu hören. Demnach beschreibt die Erzählzeit ein Verhältnis zwischen discours und histoire. Dieses nennt man Erzähltempo.
In Bezug auf das Erzähltempo gibt es drei Möglichkeiten. Entweder deckt sich die Zeitspanne, die ein Text vermittelt mit der Zeit, die ein Leser zum Lesen benötigt. Dieser Umstand wird als zeitdeckendes Erzählen bezeichnet. Wenn die Ausdehnung des discours im Werk überwiegt und die Bewältigung des Textes mehr Zeit beansprucht, als die Zeit, die darin vermittelt wird, sprechen wir vom zeitdehnenden Erzählen.
Die dritte Möglichkeit ist das zeitraffende Erzählen. Hier wird im discours, also auf der Ebene der Textmenge, mehr Zeit erzählt, als für das Lesen des Textes notwendig ist. Ein bekanntes Beispiel ist Buddenbrooks, ein Roman von Thomas Mann. Hierbei werden mehrere Generationen im Text begleitet. Die Zeitspanne des Lesen ist natürlich bei weitem kürzer. Dies gilt außerdem für viele historische Romane.
Das obige Bild zeigt die drei möglichen Formen des Erzähltempos. In den meisten Erzählungen findet sich ein zeitraffendes Erzählen, das Ereignisse für den Leser zusammenfasst. Zeitdeckendes Erzählen ist in der Regel nur annäherungsweise möglich. Typisch ist hierbei die Figurenrede in Form von Dialogen sowie Monologen. Zeitdehnendes Erzählen wird meist durch Digressionen (Abschweifungen) eines auktorialen Erzählers realisiert oder mittels äußerst detailreichem Erzählen.
Günther Müller: Erzählzeit und erzählte Zeit
Diese Begriffe gehen auf den Literaturhistoriker Günther Müller zurück der sie 1947 vorschlug. Doch auch Thomas Mann, der uns mit den Buddenbrooks ein Beispiel lieferte, befasste sich im Zauberberg (1924) mit der Erzählzeit. So sagt der Erzähler im Roman über die Erzählung:
„Die Erzählung„, so konstatierte er, „hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann.“
Im obigen Auszug werden zwei Zeiten in einer Erzählung herausgestellt: die musikalisch-reale und die ihres Inhalts. Diese Begriffe meinen letzten Endes das Gleiche, wie auch schon Erzählzeit und erzählte Zeit. Diese Begriffe wurden rund zwanzig Jahre später von Günther Müller vorgeschlagen und haben große Verbreitung innerhalb der deutschsprachigen und internationalen Erzählforschung gefunden.
Die erzählte Zeit ist auf der Ebene der histoire angesiedelt und ist demnach die Zeitspanne, die die gesamte Geschichte beschreibt. Hierfür gibt es meist fiktionsinterne Datierungen, die bei der genauen Bestimmung helfen können (Datumsangaben, Tagesabläufe, Zeitangaben).
Denken wir an die Schöpfungsgeschichte aus der Bibel. Diese erzählt davon, wie Gott unsere Welt in sechs Tagen erschafft und am siebenten ruht. Vielleicht benötigt ein Leser rund fünf Minuten, um die Zeilen zu lesen. Demnach beträgt die erzählte Zeit sieben Tage, wobei die Erzählzeit lediglich fünf Minuten beträgt. Das Verhältnis von fünf Minuten und sieben Tagen heißt Erzähltempo oder Erzählgeschwindigkeit.
Was bringen Erzählzeit und erzählte Zeit?
Was bisher geschildert wurde, ist noch nicht wirklich zielführend. Wir haben gesehen, dass der Anfang der Bibel zeitraffend erzählt ist, weil die erzählte Zeit größer ist, als die Erzählzeit. Diese Feststellung ermöglicht es noch nicht, etwas über den Charakter der Erzählung auszusagen.
Spannend wird es erst dann, wenn das Verhältnis aus Erzählzeit und erzählter Zeit mit anderen Texten oder anderen Passagen des gleichen Buches verglichen wird. So lässt sich nämlich Grundlegendes zum Aufbau eines Werkes feststellen und über dessen Rhythmus aussagen.
Beispielsweise geben zahlreiche Werke anfangs das bisherige Geschehen wieder. So wird mitunter ein ganzes Leben auf wenigen Seiten dargestellt, wodurch das Erzählen sehr stark gerafft wird. Nach einer solchen Einleitung kann es aber vorkommen, dass das restliche Werk nur noch einen einzigen Monat beinhaltet. Somit wurde anfangs schnell erzählt und danach langsamer.
Hinweis: Dezufolge bestimmt das Verhältnis aus erzählter Zeit und Erzählzeit maßgeblich den Rhythmus eines Werkes, wobei es natürlich eher der Wechsel des Verhältnisses ist, was den Rhythmus ausmacht.
Übersicht: Das Wichtigste zur Erzählzeit im Überblick
- In einem Werk gibt es zwei verschiedene „Zeiten“. Einmal die Erzählzeit und die erzählte Zeit. Die Erzählzeit meint die Zeitspanne, die ein Leser zum Lesen benötigt und wird meist mithilfe der Textmenge angegeben. Die erzählte Zeit ist die Zeit, die tatsächlich im Werk erzählt wird.
- Aus dem Verhältnis dieser beiden Ebenen, ergibt sich die Geschwindigkeit einer Erzählung: das Erzähltempo. Dabei kann entweder zeitraffend, zeitdeckend oder zeitdehnend erzählt werden.
- Mithilfe des Erzähltempos lassen sich Abschnitte eines Werkes oder sogar verschiedene Werke miteinander vergleichen. Das Erzähltempo bestimmt nämlich maßgeblich den Rhythmus und zeichnet sich durch Rhythmuswechsel aus.