Konkrete Poesie

Die Konkrete Poesie ist eine avangardistische Strömung der Literatur, welche sich mit experimenteller Dichtung befasst. Die Konkrete Poesie versucht, die sprachlichen Elemente von ihrem Sinn zu lösen. Unterscheiden lassen sich dabei akustische Dichtung und visuelle Poesie. Die akustische Dichtung löst sämtliche sprachliche Elemente eines Textes von ihrem Sinn und ordnet sie nach akustischen, also klanglichen, Regeln. Die visuelle Poesie experimentiert mit dem Erscheinungsbild von Texten, wodurch der Text über seine äußere Form eine Aussage vermittelt oder tatsächlich zum Bild wird.


Begriff

Die Wortfolge setzt sich aus dem Adjektiv konkret sowie dem Substantiv Poesie zusammen. Poesie meint in diesem Zusammenhang Gedicht oder Dichtung, wobei das Wort konkret idealerweise als etwas verstanden wird, das anschaulich sowie sinnlich erfahrbar ist. Die Wortfolge beschreibt demzufolge lyrische Werke, die anschaulich sind und außerdem über die Sinne wahrgenommen werden können.

Konkrete Poesie versucht also, die visuellen (bildlichen) und akustischen (klanglichen) Dimensionen der Sprache zu nutzen und bedient sich ausschließlich dieser Eigenschaften, um Werke zu schaffen. Dadurch werden die sprachlichen Elemente von ihrer eigentlichen Funktion befreit. Interpunktion, Buchstaben und Wörter werden von ihrem Sinn gelöst. Sie stehen nur für sich und werden dadurch konkret.

Beispiele

Um die Merkmale und Eigenschaften, die im vorherigen Abschnitt benannt wurden, zu verdeutlichen, schauen wir auf einige Beispiele konkreter Poesie. Unter dem jeweiligen Beispiel-Text finden sich Erläuterungen und weitere Hinweise zum Verständnis.


schweigen schweigen schweigen
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Das obige Beispiel Konkreter Poesie ist von Eugen Gomringer, der als Begründer der Konkreten Poesie gilt. Bevor anhand des Beispiels gezeigt werden soll, warum das Ganze konkret ist, noch ein Vers zum Vergleich, der aus Johann Wolfgang von Goethes Wandrers Nachtlied stammt: Die Vögelein schweigen im Walde.

Der Vers und das Werk Gomringers haben in jedem Fall eine Gemeinsamkeit. Sie verwenden beide das Wort schweigen. Der wesentliche Unterschied ist nun allerdings, dass Goethe die Vögelein als ruhig kennzeichnet, indem er das Wort schweigen im eigentlichen Wortsinn gebraucht. Der Leser weiß, was das Wort bedeutet und kann so durch dessen Bedeutung ableiten, dass die Vögelein keinen Ton mehr von sich geben.

Wir erschließen Goethes Vers also, weil sich hinter jedem Begriff ein Inhalt verbirgt, welcher uns bekannt ist. Grominger reißt das Wort schweigen nun aber aus genau diesem Sinnzusammenhang und ordnet es vierzehn Mal in fünf Zeilen an. In der mittleren Verszeile, also der dritten, gibt es jedoch eine sprachliche Lücke. Diese zeigt ebenfalls das Schweigen, obwohl es nicht inhaltlich erschlossen, sondern gesehen werden kann. Die Leerstelle wird so über das Auge des Lesers wahrgenommen, nicht über das Erschließen des Sinns.
Unterschied zwischen einem normalen Satz und der konkreten Poesie.

Der grundsätzliche Unterschied zu einem normalen Gebrauch der Sprache ist im angeführten Beispiel somit das tatsächliche Zeigen des Gemeinten, wodurch sich die Sprache selbst darstellt und nicht nur als Sinnträger von Informationen und Inhalten fungiert. Wesentlich ist für die Konkrete Poesie also, dass die Sprache keine Verweisfunktion mehr hat – also auf eine Bedeutung verweist. Demzufolge gibt es hier kein Gedicht über irgendeinen Inhalt, sondern nur sprachliche Produkte, die selbst der Inhalt sind.

Allerdings verwendet Grominger in seinem Werk, das das Schweigen zeigt, immer noch das Wort und hilft somit dem Leser indirekt bei der Deutung des Werkes. Eine Steigerung des Ganzen wäre es, das tatsächliche Wort durch einen Fantasiebegriff zu ersetzen, denn diese sprachliche Lücke bliebe dennoch erhalten. Eine solche Steigerung, die zur Auflösung der Sprache führt, findet sich beim Dichter Christian Morgenstern.
Bedeutung der konkreten Poesie am beispiel von Christian Morgensterns Fisches Nachtsgesang

Im obigen Beispielgedicht (?) von Christian Morgenstern, welches den Titel Fisches Nachtgesang trägt, wird das Anliegen der Konkreten Poesie auf die Spitze getrieben. Es gibt lediglich im Titel des Werkes, das nur aus Längen und Kürzen besteht, einen Hinweis, worum es tatsächlich geht. Demzufolge reduziert dieses Werk die Sprache auf eine ihrer kleinsten Einheiten, nimmt ihr den Inhalt, der sich ansonsten hinter Wörtern versteckt, und macht aus ihr ein klangliches (?) und visuelles Werk, das den eigenen Inhalt darstellt.

Das Visuelle wird durch die Form gezeigt: Schaut man genauer hin, könnten die Verse des Werkes nämlich als Fisch gesehen werden, wobei der Titel eine Schwanzflosse wäre. Klanglich wird der Gesang des Fisches gezeigt, denn die Aneinanderreihung von Kürzen und Längen kann durchaus als Nachbildung der typischen Maulbewegungen des Fisches (geöffnet – geschlossen) gedeutet werden. Morgensterns Gedicht verweist demnach nicht auf eine Bedeutung, sondern stellt diese selbst dar – folglich ist es Konkrete Poesie.

Merkmale der Konkreten Poesie

  • Die Bezeichnung Konkrete Poesie ist eine Ableitung aus dem Begriff Konkrete Kunst, der von Theo van Doesburg, einem Maler, Schriftsteller und Kunsttheoretiker, um 1930 geprägt wurde. Konkrete Kunst bezeichnete Kunst, die auf mathematisch-geometrischen Grundlagen beruht und keine symbolische Bedeutung hat. Diese Bezeichnung wurde auf die Poesie übertragen.
  • In Bezug auf die Kunst benannte Doesburg die Elemente Punkt, Linie, Fläche und Farbe eines Bildes als konkret. Parallel zu dieser Deutung prägte Pierre Schaeffer den Begriff der Musique concrète, bei der einzelne Klänge und Geräusche durch Montage zu Werken gefügt wurden.
  • Diese drei Kunstrichtungen haben gemein, dass sie die einzelnen Elemente herauslösen und aus ihnen eine eigene Realität entstehen lassen. Das Werk soll also selbst der Inhalt sein.
  • In Bezug auf die Konkrete Poesie war es Öyvind Fahlström, ein schwedischer Künstler, welcher den Begriff erstmalig 1953 nutzte. Dennoch gilt vom vers zur konstellation (1954) von Eugen Gomringer, das später erschien, als das Gründungsmanifest der literarischen Strömung.
  • Den einzelnen Wörtern wird hierbei ihre Funktion als Bedeutungsträger aberkannt – sie werden als visuelle (über das Sehen) und phonetische (über das Hören) Gestaltungsträger verstanden. Aus den Satzzeichen entstehen folglich akustische oder visuelle Bilder.
  • Durch die grafische Anordnung eines Textes sollte dieser den Inhalt ironisieren oder zusätzlich unterstreichen. Ist der Text nach klanglichen Aspekten angeordnet, verliert er dabei sehr häufig jede Aussage und wird ausschließlich zur akustischen, aber wahrnehmbaren, Verknüpfung.
  • Ein Gedicht verweist also nicht mehr auf eine Bedeutung oder schreibt über einen Gegenstand, sondern zeigt diesen selbst. Dieses Vorgehen löst Wörter, Buchstaben, Satzzeichen aus dem Zusammenhang der Sprache heraus. Das wird als konkret bezeichnet.
  • Hinweis: In der heutigen Zeit gibt es kaum noch Konkrete Poesie, jedenfalls nicht als Ausdruck einer großen Künstlergruppe, sondern allenfalls von einzelnen Vertretern. Als das Hoch der Strömung können demnach die 1950er Jahre bezeichnet werden.

Weitere Textbeispiele (externe Links): [1] [2] [3] [4]

Vertreter

  • Vertreter der Konkreten Poesie (Auswahl)
    • Friedrich Achleitner (Österreich)
    • Guillaume Apollinaire (Frankreich)
    • Alain Arias-Misson (Belgien)
    • H. C. Artmann (Österreich)
    • Carlo Belloli (Italien)
    • Max Bense (D)
    • Chris Bezzel (D)
    • Bill Bissett (Kanada)
    • Ivar Breitenmoser‎ (CH)
    • Claus Bremer (D)
    • Joan Brossa (Katalonien)
    • Augusto de Campos (Brasilien)
    • Haroldo de Campos (Brasilien)
    • Safiye Can (Deutschland)
    • Henri Chopin (Frankreich)
    • Carlfriedrich Claus (D)
    • Caterina Davinio (Italien)
    • Paul de Vree (Belgien)
    • Reinhard Döhl (D)
    • Joseph Felix Ernst (D)
    • Öyvind Fahlström (Schweden)
    • Ian Hamilton Finlay (Schottland)
    • Heinz Gappmayr (Österreich)
    • Eugen Gomringer (Schweiz)
    • Ferreira Gullar (Brasilien)
    • Helmut Heißenbüttel (D)
    • Sylvester Houédard (England)
    • Ernst Jandl (Österreich)
    • Kitasono Katue (Japan)
    • Jiří Kolář (Tschechien)
    • Ferdinand Kriwet (D)
    • Wolfgang Lauter (D)
    • Jackson Mac Low (USA)
    • Kurt Marti (Schweiz)
    • Kurt A. Mautz (D)
    • Hansjörg Mayer (D)
    • Eugenio Miccini (Italien)
    • Franz Mon (D)
    • Edwin Morgan (Schottland)
    • Christian Morgenstern (D)
    • bp Nichol (Kanada)
    • Seiichi Niikuni (Japan)
    • Tom Phillips (England)
    • Décio Pignatari (Brasilien)
    • Carl Frederik Reuterswärd (Schweden)
    • Diter Roth (Schweiz)
    • Gerhard Rühm (Österreich)
    • Konrad Balder Schäuffelen (D)
    • Siegfried J. Schmidt (D)
    • Kurt Schwitters (D)
    • André Thomkins (Schweiz)
    • Timm Ulrichs (D)
    • Wolf Wezel (D)
    • Emmett Williams (USA)
    • Jonathan Williams (USA)


Stichwortverzeichnis