Enjambement

Das Enjambement ist ein lyrisches Stilmittel, das nicht in der gesprochenen Sprache, sondern ausschließlich in der geschriebenen vorkommt. Das Enjambement ist das Hinüberschreiten von einer Satz- oder Sinneinheit aus einem Vers in den darauf folgenden. Das Stilmittel wird auch als Zeilensprung oder Versbrechung bezeichnet.


Meist finden wir in der Lyrik den sogenannten Zeilenstil. Das bedeutet, dass Versende und Satzende unmittelbar in einer Zeile zusammen fallen. Diese starre Form wird durch das Enjambement aufgebrochen. Finden sich sehr viele solcher Zeilensprünge in einem Gedicht, spricht man in der Wissenschaft von einem Hakenstil, wobei Satz- und Versende eben nicht in einer Zeile zusammen fallen.

Hinweis: Das Wort lässt sich aus dem Französischen ableiten und bedeutet „Überschreitung“ oder auch „überspringen“ (frz. enjamber). Die Übersetzung zeigt sehr gut, was es mit der Stilfigur im Eigentlichen auf sich hat. Denn im Grunde meint diese eine Überschreitung der Versgrenzen.

Das Enjambement erkennen

Schauen wir zunächst auf ein Gedicht, das im typischen Zeilenstil geschrieben wurde und werfen dann einen Blick auf die beschriebene Stilfigur anhand eines kurzen Beispiels.

Verse im klassischen Zeilenstil in Heinrich Heines „Die Wanderratten“
Sie klimmen wohl über die Höhen,
Sie schwimmen wohl durch die Seen;
Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,
Die Lebenden lassen die Toten zurück.

Das gewählte Beispiel für den Zeilenstil ist die dritte Strophe aus Heinrich Heines Die Wanderratten. Wir können sehen, dass jede Zeile (Vers) aus einem Satz gebildet wird. Sehr gut kann man das auch an den Satzzeichen am Ende aller Zeilen erkennen. Außerdem bildet jeder Vers eine Sinneinheit.

Satz- und Versende fallen folglich zusammen. Der Effekt ist, dass wir nach jeder Zeile beim Lesen unmittelbar eine Pause machen. So eine Pause nennen wir in der Wissenschaft Zäsur (Einschnitt).
Verse mit Enjambement in Eichendorffs „Die Nachtblume“
Nacht ist wie ein stilles Meer,
Lust und Leid und Liebesklagen
kommen so verworren her
in dem linden Wellenschlagen.

Dieses Textbeispiel ist die erste Strophe aus Joseph Eichendorffs „Die Nachtblume„. In der ersten Verszeile steht zwar noch ein einzelner Satz, doch die nachfolgenden sind durch zwei Zeilensprünge gekennzeichnet. Denn der Satz, der im zweiten Vers beginnt, wird im dritten fortgeführt und endet erst nach einem erneuten Umbruch (Enjambement) in der vierten Verszeile. Der Satz geht also über mehrere Verse.

Satz- und Versende fallen beim Enjambement nicht zusammen. Die Zäsur, wie sie im obigen Beispiel vorliegt, entfällt und wir ziehen die Verse beim (Vor-) Lesen eher zusammen.

Starkes und schwaches Enjambement

Das Enjambement meint also grundsätzlich, dass ein Satz über mehrere Verse fortgesetzt wird. Dabei wird zusätzlich zwischen schwachem und starkem Enjambement unterschieden.

Erfolgt der Versbruch in einem Gedicht durch ein starkes Enjambement, so wird die syntaktische Einheit des Satzes durchbrochen. Haben wir es hingegen mit einem schwachen Enjambement zu tun, wird der eigentliche Satz lediglich aufgebrochen.

Hinweis: Die Syntax ist die Lehre vom (korrekten) Satzbau. Eine syntaktische Einheit ist folglich eine Einheit, die sprachlich unmittelbar zusammengehört und eigentlich nicht getrennt wird.

Beispiel: Starkes Enjambement
Ich lief durch die regnerische
Nacht und wollte ins Trockene.

Der Satz „Ich lief durch die regnerische Nacht und wollte ins Trockene“ wird nach dem Wort regnerische umgebrochen. Da die Begriffe regnerische und Nacht eine syntaktische Einheit bilden, weil sich das Adjektiv unmittelbar auf das Substantiv bezieht, sprechen wir von einem starken Enjambement.

Beispiel: Schwaches Enjambement
Ich lief durch die regnerische Nacht
und wollte ins Trockene.

Nun ist das Beispiel-Gedicht ein wenig verändert worden und der Zeilensprung erfolgt vor dem Bindewort und. Es wurden folglich keine syntaktischen Einheiten unterbrochen, sondern lediglich der eigentliche Satz. In diesem Fall sprechen wir von einem schwachen Enjambement.

Beispiel: Mehrere Zeilensprünge bilden den Hakenstil
Ich lief durch
die regnerische
Nacht und wollte
ins Trockene.

Fügen wir dem Gedicht noch weitere Zeilensprünge hinzu, haben wir in jedem Vers ein Enjambement, das die Ordnung durchbricht. Finden wir eine solche Abfolge von Enjambements in einem Gedicht, bezeichnen wir dieses Phänomen als Hakenstil.

Das Strophenenjambement

Das Enjambement muss sich allerdings nicht nur auf den Zeilensprung zwischen einzelnen Versen beziehen, sondern kann auch zwischen ganzen Strophen eines Gedichtes vorliegen.

Das Prinzip ist dabei grundsätzlich das gleiche, wobei ein Satz eben über die Strophengrenzen hinaus fortgeführt wird. Dadurch wird die Pause, die üblicherweise durch eine Einteilung in Strophen entsteht, verkleinert. Der einzelne Satz kann somit die Abschnitte eines lyrischen Werkes zusammenhalten und übernimmt somit eine ähnliche Funktion wie das Versmaß oder auch das Reimschema.

Das Strophenenjambement in GryphiusTränen in schwerer Krankheit
Was bilden wir uns ein, was wünschen wir zu haben?
Itzt sind wir hoch und groß, und morgen schon vergraben;
Itzt Blumen, morgen Kot. Wir sind ein Wind, ein Schaum,

Ein Nebel und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten;
Itzt was und morgen nichts. Und was sind unsre Taten
Als ein mit herber Angst durchmischter Traum.

Farblegende: Strophenenjambement | „normaler“ Zeilensprung

Das morphologische Enjambement

Die Stilfigur wurde bisher so beschrieben, als dass sie Sätze über mehrere Verse hinaus aufteilt. Allerdings ist auch die Trennung innerhalb eines einzigen Wortes denkbar.

Wird ein Wort über mehrere Verszeilen aufgeteilt, wird das als morphologisches Enjambement bezeichnet. Als Beispiel können zwei Verse aus Max & Moritz von Willhelm Busch dienen.

Jeder weiß, was so ein Mai-
käfer
für ein Vogel sei.

Das Stilmittel wurde in diesen Versen durch Kursivschreibung hervorgehoben und erklärt sich von selbst. Das Wort Maikäfer wurde hierbei auf mehrere Zeilen umgelegt (Mai / käfer).

Wirkung und Funktion des Enjambements

Grundsätzlich ist es schwierig, einem Stilmittel eine klare Funktion zuzuschreiben. Allerdings hat jede Stilfigur natürlich einen Effekt auf den Leser und diesen kann man beschreiben.

  • Das Enjambement bricht die gängige Struktur eines Gedichtes auf, da es die Zäsur, die am Versende steht, übergeht.
  • Dadurch können Gedichte, jedenfalls beim Vortragen, um ein Vielfaches flüssiger oder auch gleitender wirken und wir verfallen nicht in eine Art Singsang.
  • Dadurch kann das Enjambement einen Text gewissermaßen strukturieren und die einzelnen Verse oder auch Strophen inhaltlich miteinander verbinden.
  • Häufig provozieren solche Zeilensprünge aber auch ganz neue Bedeutungen, da uns die Versstruktur nicht unmittelbar vorgibt, welche Wörter nun wirklich zueinander gehören.