Der Schimmelreiter

Einleitung

Der Schimmelreiter ist eine Novelle des Schriftstellers Theodor Storm, die im April 1888 in der Zeitschrift Deutsche Rundschau veröffentlicht wurde und darüber hinaus als bekannteste Erzählung des Schriftstellers gilt sowie zu dessen Spätwerk zählt.

Obwohl sich Theodor Storm über längere Zeit mit dem Stoff der Erzählung auseinandergesetzt hat, begann er erst im Sommer des Jahres 1886 mit der Niederschrift. Storm beendete die Arbeit am Schimmelreiter im Februar 1888, wenige Monate vor seinem Tod. Damit zählt die Erzählung zu einem der letzten Werken von Theodor Storm. Gleichzeitig gilt sie als reifste Arbeit des Schriftstellers.

Der Schimmelreiter thematisiert das Handeln und Tun des fiktiven Deichgrafen Hauke Haien, dessen Lebensgeschichte im Zentrum der Erzählung steht. Bereits als Kind beschäftigt sich Hauke Haien mit der Entwicklung einer neuartigen Deichform, welche er später als Nachfolger eines Deichgrafen auf Grund der hohen Baukosten zum Unmut der Dorfbewohner umsetzen wird. Da es Hauke Haien nicht gelingt, den Konflikt mit den Dorfbewohnern zu lösen, endet die Geschichte tragisch. Seine Frau und seine Tochter kommen bei einer Flut ums Leben, woraufhin sich Hauke Haien selbst das Leben nimmt, wofür er auf seinem Schimmel ins tobende Meer reitet.

Die Novelle spielt in Nordfriesland und setzt sich dabei aus mündlichen Erzählungen, schleswig-holsteinischen Sagen und schriftlichen Überlieferungen zusammen. Die Lebensgeschichte von Hauke Haien wird von einem Schulmeister in einem Wirtshaus erzählt. Sowohl der Bericht über Hauke Haien als auch die Erzählung des Reisenden, der den Bericht des Schulmeisters niedergeschrieben hat, werden durch den Erzähler gerahmt.

Der Erzähler gibt zu Beginn der Novelle an, die Erzählung des Reisenden, der in einem Wirtshaus auf den Schulmeister trifft, im Haus seiner Urgroßmutter durch das Lesen eines Zeitschriftenhefts erfahren zu haben. Die eigentliche Geschichte des Schimmelreiters Hauke Haien wird insofern von zwei Rahmenerzählungen umfasst (vgl. Erzählerbericht).

Inhaltsangabe

Die Novelle beginnt mit der Schilderung eines frühen Leseerlebnisses des Erzählers im Haus seiner Urgroßmutter: „Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kundgeworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte.“

In der Erzählung reist ein Mann entlang der nordfriesischen Küste in Richtung Husum. Auf einem Deich sieht er einen rätselhaften Reiter auf einem Schimmel. Es sieht so aus, als würde der Schimmelreiter im Meer verschwinden. Der Reisende ist verwundert und schildert sein Erlebnis in einem nahen Wirtshaus. Mehrere Gäste hören seinem Bericht zu. Nach seinem Bericht beginnt ein anwesender Schulmeister die Geschichte des Deichgrafs Hauke Haien, der in der Umgebung als Schimmelreiter bekannt ist.

Hauke Haien ist der besitzlose Sohn eines einfachen Bauern und Landvermessers. Dennoch handelt es sich bei dem kleinen Hauke Haien bereits um ein sehr wissbegieriges Kind, das sich sehr für Mathematik sowie Geometrie interessiert. Er ist technisch hoch begabt und ist darüber hinaus insbesondere vom Deichbau fasziniert.

Bereits als Kind erstellt er Berechnungen, die die Konzeption eines ganz neuartigen, flachen Deichbaus zur Folge haben. Dennoch ist Hauke Haien als Kind eigenbrötlerisch und von den anderen Kindern isoliert. Er betrachtet die Wellen und hält sich bei jedem Wetter auf dem Deich auf. Einmal meint er, Geister im Watt zu erkennen. An dieser Stelle wird die Erzählung des Schulmeisters unterbrochen, da einige Zuhörer der Meinung sind, den Schimmelreiter am Fenster gesehen zu haben.

Doch der Schulmeister setzt die Erzählung fort und berichtet, wie der gerade volljährige Hauke in den Dienst des gutmütigen Deichgrafen Tede Volkerts eintritt. Während seines Dienstes für den Deichgrafen entwickelt sich eine Beziehung zwischen der Tochter des Deichgrafen Elke und dem jungen Hauke Haien. Allerdings ist der Großknecht Ole Peters über diese Beziehung keineswegs erfreut, da er selber ein Auge auf Elke geworfen hat.

Hauke hingegen erledigt seine Aufgaben fleißig. Es gelingt ihm sogar, eigene Ideen in die Arbeit einzubringen. Er weist den Deichgrafen auf Missstände hin und wird von diesem für seine Leistung geschätzt. Trotz erheblicher Probleme mit den Nachbarn, die von Ole Peters geschürt werden, leistet Hauke Haien erfolgreiche Arbeit. Auf einem Dorffest bekennt sich Elke zu ihrem Verehrer Hauke Haien.

In der Folge organisiert Hauke Haien einen Verlobungsring und bewahrt ihn zunächst über längere Zeit in seiner Westentasche auf. Es scheint ihm möglich, durch ein gespartes Vermögen seines Vaters eines Tages das Amt des Deichgrafen zu übernehmen. Bei einer Hochzeit im Dorf übergibt er Elke den Verlobungsring. Diese hält den Zeitpunkt allerdings noch nicht für günstig und verwahrt den Ring nun selbst für eine weitere Zeit auf.

Als der Deichgraf Volkerts stirbt, wird bei einem Leichenschmaus über seine Nachfolge diskutiert. Elke hört, wie der Oberdeichgraf über die zu besetzende Position nachdenkt. Sie erzählt ihm schließlich von ihrer Verlobung mit Hauke Haien und erklärt, dass sie ihr Erbe an ihren künftigen Mann übergeben wird. Damit verfügt Hauke Haien nicht nur über die nötige Erfahrung das Amt des Deichgrafen zu übernehmen, sondern auch über das nötige Vermögen. Er wird zum Deichgrafen ernannt. Das Gespräch wird erneut unterbrochen, da der Schimmelreiter anscheinend gesichtet wurde.

Die folgenden Jahre sind durch die ehrgeizige Arbeit Hauke Haiens bestimmt. Er entwirft einen Plan zur Sicherung des Damms, der den Dorfbewohnern viele Kosten auslastet. Der durch diesen Umstand bereits vorhandene Unmut über den Deichgrafen wird von dem intriganten Gegenspieler Ole Peters verstärkt. Er versucht alles, die Position des neuen Deichgrafen zu schwächen. Zunehmend entfernt sich auch Hauke von den Dorfbewohnern und er ist unglücklich darüber, dass die Dorfbewohner die Notwendigkeit, den Deich zu verstärken, nicht anerkennen.

Eines Tages kauft er ein weißes Pferd, einen Schimmel. Die Dorfbewohner sind abergläubisch und meinen, dass das Pferd wie ein auferstandenes Gerippe aussieht, das zuvor noch im Watt gelegen hat.

In seiner Funktion als Deichgraf ist Hauke Haien für die Sicherung des Dorfes vor dem Meer verantwortlich. Um die Dorfbewohner bestmöglich zu schützen entwickelt Hauke Haien einen ehrgeizigen Plan für einen neuartigen, flachen Deich, der jede Flut abweisen soll. Allerdings erweist sich der Bau des Deiches als kostspielig, was den Unmut der Dörfler auf sich zieht. Der Oberdeichgraf ermutigt Hauke Haien allerdings in seinen Plänen.

Seine Frau Elke bringt ein Kind zur Welt. Der Mutter gelingt es aber nur knapp, die Geburt zu überleben und zur Vergrößerung des Unglücks ist die Tochter geistig behindert. Von den Dorfbewohnern wird Hauke vorgeworfen, nicht gottesfürchtig zu sein. Der schwelende Konflikt zwischen Hauke Haien und den Dorfbewohnern erreicht einen neuen Höhepunkt, als der Deichgraf verhindert, dass die Anwohner einen lebendigen Hund an der Nahtstelle zwischen alten und neuen Deich begraben.

Im Frühjahr entdeckt Hauke Haien eine erhebliche Schwachstelle im alten Deich. Allerdings ist er von einer Krankheit gezeichnet und es gelingt ihm deshalb nicht, die erforderliche Kraft aufzubringen, die Verantwortlichen im Dorf von einer notwendigen Reparatur des Deiches zu überzeugen. Gegen seinen Willen sagt er einer oberflächlichen Reparatur zu.

Gegen Allerheiligen braut sich ein heftiger Sturm zusammen. Bereits zuvor waren im Dorf allerhand abergläubische Ahnungen über ein kommendes Unglück verbreitet gewesen. Hauke Haien reitet auf seinem weißen Schimmel den Deich entlang und trifft auf Dorfbewohner, die auf Befehl seines Widersachers Ole Peters den von ihm gebauten neuen Deich durchstechen. Zur Bestärkung allen Unglücks bricht der alte Deich und das Meer überflutet das Dorf.

Der Deichgraf muss mit ansehen, wie seine Frau mit seiner Tochter zu fliehen versucht. Doch sie sterben in den Fluten. Nach dem er dieses Unglück mit angesehen hat, gibt er dem Pferd den Befehl in die Fluten zu rennen. Der Deichgraf verschwindet auf seinem Schimmel im tosenden Meer.

Am Ende der Erzählung lobt der Schulmeister den nach dem Deichgrafen Hauke Haien benannten Deich. Er sagt, dass er bereits seit mehr als hundert Jahren steht und noch nicht überflutet wurde. Am nächsten Tag reitet der Reisende vom Beginn der Erzählung über den Deich.

Form und Sprache

Die besondere Erzählstruktur der Novelle gibt Anlass zu einer Reihe von Überlegungen. So sagt Ulrich Kittstein, dass der dreiteilige Aufbau der Erzählung als eine „Erzählung über das Erzählen aufgefasst“ werden kann. Durch den aufeinander aufbauenden Verweis der Erbzählfiguren werden Fragen nach der Darstellungsmöglichkeit der Wirklichkeit aufgeworfen.

Indem der erste namenlose Erzähler (der am Ende des 19. Jhd. zur Entstehungszeit der Novelle bestimmt werden kann) über seine Lektüre eines Berichts des unbekannten Reisenden berichtet (dieser spielt um 1820), wird bereits die Realität als eine sprachlich vermittelte Wirklichkeit dargestellt.

In dem zweiten Reisebericht steht nun wiederum die Figur des Schulmeisters im Fokus, welcher die Lebensgeschichte des Deichgrafen Hauke Haien erzählt (die in den Jahren 1732 bis 1756 spielt), die sich wiederum aus mündlichen Überlieferungen zusammensetzt. Grundsätzlich entspricht dieser Aufbau der Novellenform, in der durch die rahmende Erzählung eine Fokussierung auf ein ganz bestimmtes Erzählthema gewährleistet wird.

Sonstiges

Nach dem mysteriösen Tod des Deichgrafen Hauke Haien lebt dieser im Aberglauben der Küstenbewohner als Schimmelreiter fort. Das Mysteriöse der Erzählung verdeutlicht die Unsicherheit, sich als bürgerliches Individuum einen Platz in der Welt zu erstreiten.

Während der Deichgraf Hauke Haien sein ganzes Leben lang durch Kreativität und Ehrgeiz getrieben ist, scheitert er doch an den Unwägbarkeiten seiner Umwelt. Insbesondere im Bild des die Stadt überschwemmenden Meeres ist die Auslieferung des Subjekts an ein Schicksal ausgedrückt, auf das es keinen Einfluss hat und das es demnach auch nicht kontrollieren kann.

Theodor Storm

Im Jahre 1817 wurde der nordfriesische Schriftsteller Theodor Storm in der Stadt Husum geboren. Seiner Heimatstadt setzte der Dichter, Schriftsteller und Anwalt Storm mit dem Gedicht Die Stadt aus dem Jahre 1852 ein literarisches Denkmal, das bis heute als eines der bekanntesten Gedichte der deutschen Sprache überliefert ist.

Bereits zu Schulzeiten veröffentlichte Storm Gedichte und knappe Prosatexte, die hauptsächlich in Lokalzeitungen veröffentlicht wurden. Storm studierte Jura in Kiel und Berlin und siedelte nach dem Studium in seine Heimatstadt Husum zurück, wo er alsbald eine Anwaltskanzlei eröffnete.

Er lebte fortan einen für die bürgerliche Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts typischen Spagat zwischen bürgerlichen Beruf und künstlerischer Aktivität. Auf Grund seiner deutsch-patriotischen Überzeugung musste er im Jahre 1850 seine Kanzlei aufgeben und seine Heimat verlassen. Erst nach dem Deutsch-Dänischen Einigungskrieg 1864, bei dem Preußen über Dänemark siegte, konnte Storm in seine Heimat zurückkehren. Jetzt wurde er sogar zum Landvogt befördert.
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