Die Apostrophe ist ein Stilmittel der Rhetorik und meint die feierliche oder betonte Anrede an ein imaginäres Objekt oder eine abwesende Person. Die Apostrophe lässt sich somit in sämtlichen literarischen Gattungen ausmachen, auch wenn wir sie eher in gesprochenen Äußerungen entdecken können, wie etwa dem Drama oder auch der Rede (→ Redeanalyse)
Kommt die Apostrophe in einem Werk zum Einsatz, ändert sich die Sprechsituation. Die Figur oder auch der Dichter des Werkes wendet sich beim Sprechen vom realen Publikum ab und richtet sich an ein imaginäres, also vorgestelltes, zweites Publikum.
Der vermeintliche Gesprächspartner, entweder Zuschauer oder Leser, wird folglich zum Beobachter eines Gesprächs zwischen der Figur und einer abwesenden Instanz, wie beispielsweise einer Person, einem Gott oder auch einem Objekt. Schauen wir auf ein Beispiel, um das Ganze zu verdeutlichen.
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a
b
Steht die Form, aus Lehm gebrannt.
Heute muß die Glocke werden,
Frisch, Gesellen! seid zur Hand […]
Diese Verse sind der ersten Strophe aus Friedrich Schillers Werk Das Lied von der Glocke entnommen, wobei wir in der letzten dargestellten Verszeile eine Apostrophe entdecken können. Hier richtet sich das Werk an Gesellen, die abwesend sind, wodurch sich der Adressat (Empfänger) des Gedichtes wandelt.
Einen ähnlichen Fall der Apostrophe finden wir in Johann Wolfgang von Goethes Egmont. Hier wendet sich Egmont – der allein im Gefängnis ist – an den personifizierten Schlaf und fordert sein Erscheinen. Anders ausgedrückt: Egmont will schlafen und fordert die Instanz des Schlafes auf, sich auf ihn zu senken.
wie die übrigen Freunde? Wie willig senktest du dich sonst
auf mein freies Haupt herunter und kühltest, wie ein
schöner Myrtenkranz der Liebe, meine Schläfe!
Hinweis: Die Apostrophe meint also immer einen Wechsel des ursprünglichen Adressaten (Empfänger) zu einem abwesenden Empfänger. Meist wendet sich ein Sprecher vom Publikum ab. Allerdings kann sich auch das lyrische Ich eines Werkes an eine abwesende Instanz (Gottheit, Muse) richten.
Allerdings muss der neue Adressat nicht unbedingt ein lebloses Objekt oder eine abwesende Person aus dem jeweiligen Werk selbst sein. So bezeichnen wir es auch als Apostrophe, wenn sich der auktoriale Erzähler eines erzählenden Textes an uns – den Leser – wendet und uns so in seine Gedanken einweiht.
Diese Passage ist ausgedacht und keiner realen Vorlage entnommen. Dennoch verdeutlicht sie das Prinzip der Apostrophe im literarischen Text recht deutlich. Der Erzähler wendet sich hierbei an uns, den Leser, in dem er uns eine Frage stellt. Dabei ändert sich die Sprechsituation (→ rhetorische Frage).
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Weitere Beispiele für die Apostrophe
Eine Stilfigur lässt sich am besten anhand von Beispielen nachvollziehen und verstehen. Deshalb möchten wir Ihnen noch eine kleine Auswahl zum Verständnis an die Hand geben.
und ihr Götter vor uns, getrieben werde ich und zögere nicht mehr […]
Dieser Abschnitt ist Sophokles‘ Antigone entnommen, wobei sich Antigone an die Stadt Theben richtet und sich von ihren Gesprächspartnern abwendet. Durch die Anrede wird die Stadt außerdem personifiziert.
Wo ehedem ein Gras war, da sitzest jetzt du, Öltank! (Brecht)
Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann (Bachmann)
Wirkung der Apostrophe
Die Apostrophe ändert, wie beschrieben, die Sprechsituation im literarischen Text. Diese Veränderung hat natürlich einen Grund und eine Wirkung auf den Leser oder Zuschauer.
Zwar ist es schwierig, einem Stilmittel eine klare und gleichbleibende Funktion oder Wirkung zuzuschreiben, doch einen Effekt hat der Einsatz natürlich trotzdem auf den Leser. Denoch sollten wir uns nicht darauf verlassen, da eine Stilfigur auch gegen die Erwartungen des Leser gebraucht werden kann.
- Meist wird die Apostrophe als rhetorische Frage oder Exclamatio (Ausruf) verwendet.
- Dabei erweckt die Stilfigur oftmals den Eindruck, dass der Redner oder Sprechende sehr erregt ist, was zu einer Beeinflussung des Publikums führen kann.
- Ferner findet sich die Apostrophe auch in unserer Alltagssprache. Sätze á la „Oh mein Gott!“ oder „Jesus, Maria und Josef!“ richten sich immer an eine abwesende Instanz.
- Die Apostrophe verstehen wir also als Hinwendung des Redners zu anderen als den bisher Angeredeten, Abwesenden oder auch Toten, unbelebten Dingen und Objekten (→ Personifikation) oder auch zu sich selbst. Weiterhin kann ein allwissender Erzähler, der den Leser anspricht, als Verwendung der Stilfigur gelten.
- Gerade im letztgenannten Beispiel wird ersichtlich, dass das Stilmittel auch einen überraschenden Effekt haben kann, da der Leser oder ein neuer Adressat plötzlich zum Gesprächspartner wird.
- In der Rhetorik kommt die Apostrophe zum Einsatz, um eine längere Passage zu beleben, wobei das Gesagte außerdem eindringlicher erscheint.
Wortherkunft: Der Begriff Apostrophe lässt sich aus dem Griechischen ableiten (ἀποστροφή) und bedeutet in etwa „abwenden“. Somit zeigt schon die Bedeutung, was es mit der Stilfigur auf sich hat.
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