Sonett

Als Sonett wird eine Gedichtform bezeichnet. Das Sonett ist ein vierzehnzeiliges Gedicht, das aus zwei vierzeiligen und zwei dreizeiligen Strophen besteht. Die Vierzeiler werden Quartette und die Dreizeiler Terzette genannt. Charakteristisch ist für das Sonett eine Verwendung alternierender (abwechselnde Hebung und Senkung) Versmaße, wobei meist der Jambus verwendet wird. Das Reimschema variiert. Typisch ist ein umarmender Reim im Quartett, wohingegen die Terzette zumeist dem Muster cdc/dcd, cde/cde und ccd/eed folgen. Es gibt jedoch unzählige Spielarten des Sonetts (vgl. Literaturepochen).


Begriff und Beispiele

Der Begriff verweist auf den italienischen Ursprung der Gedichtform. Das Sonett leitet sich vom lateinischen Verb sonare, das tönen oder klingen bedeutet sowie dem Nomen sonus ab, das sich mit Klang oder Schall übersetzen lässt. Im Italienischen heißt die Gedichtart sonetto, worauf der deutsche Begriff zurückgeht.

Das Gedicht ist, der Übersetzung folgend, im Deutschen auch als Kling- oder Klanggedicht bekannt, welches in der ursprünglichen Form vornehmlich gebraucht wurde, um innere Empfindungen auszusprechen und zu transportieren. Es entstand in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Italien aus dem freieren sonet, welches umfangreicher war und einen weniger strengen Aufbau hatte. Schauen wir auf ein Beispiel:


a
b
b
a

a
b
b
a

c
c
d

e
e
d

Wir sindt doch nuhnmer gantz, ja mehr den gantz verheret!
Der frechen völcker schaar, die rasende posaun
Das vom blutt fette schwerdt, die donnernde Carthaun
Hatt aller schweis vnd fleiß vnd vorrath auff gezehret.

Die türme stehn in glutt, die Kirch ist vmgekehret.
Das Rahthaus ligt im grauß, die starcken sind zerhawn,
Die Jungfrawn sind geschändt, vnd wo wir hin nur schawn,
Ist fewer, pest, vnd todt, der hertz vndt geist durchfehret.

Hier durch die schantz vnd Stadt rint alzeit frisches blutt.
Dreymall sindt schon sechs jahr, als vnser ströme flutt,
Von so viel leichen schwer, sich langsam fortgedrungen.

Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der todt,
Was grimmer den die pest vndt glutt vndt hungers noth,
Das nun der Selen schatz so vielen abgezwungen.


Das obige Beispiel, das den Titel Tränen des Vaterlandes trägt, ist von Andreas Gryphius, einem deutschen Schriftsteller des Barock. Es besteht aus vier Strophen, welche sich in zwei Quartette (Vierzeiler) sowie zwei Terzette (Dreizeiler) aufteilen. Das Gedicht folgt in den ersten zwei Strophen dem Reimschema ABBA, was umarmende Reime sind. Die Terzette folgen dem Muster CCD und EED, sind also Schweifreime.

Weiterhin wechseln sich die unbetonen sowie betonten Silben im Gedicht ab (alternieren) und lassen sich als durchgängiger Jambus (Versfuß aus zwei Silben; unbetont, betont) identifizieren. Da sich in jeder Zeile sechs Hebungen (beonte Silben) ausmachen lassen, haben wir es mit einem sechshebigen Jambus zu tun. Es fällt auf, dass die ersten Silben unbetont sind, worauf eine betonte Silbe folgt, dann wieder eine unbetonte usw.

Die letzten Silben der Verszeilen sind allerdings verschieden. Die Verse 1, 4, 5, 8, 11 und 13 enden unbetont, wohingegen die anderen Zeilen betont enden. Davon ausgehend, dass sich im Gedicht aber immer Jamben abwechseln, die bekanntlich aus zwei Silben bestehen, müssten die Verse, wenn sie gleich beginnen, aber auch gleich enden und somit aus einer geraden Anzahl aus Silben bestehen – machen sie aber nicht.

Entscheidend ist für ein Sonett des Barock nämlich nur, dass es je Verszeile sechs Hebungen gibt, die durch den Jambus realisiert werden. Somit kann am Ende einer Verszeile durchaus eine weitere, jedoch unbetonte, Silbe stehen. Die Sonette des Barock haben also je Zeile 12 oder 13 Silben, wobei die 12. Silbe stets betont, die 13. immer unbetont ist. Endet eine solche Verszeile betont, spricht man von einer männlichen Kadenz, endet sie unbetont, von einer weiblichen. Die Kadenzen sind im Sonett also wechselhaft.

Das bedeutet: Das obige Beispiel von Gryphius ist ein Sonett, weil es aus vierzehn Versen besteht, die sich in zwei Quartette und zwei Terzette aufteilen, eine alternierende Abfolge von unbetonten sowie betonten Silben aufweist, die jambisch sind und unterschiedliche Kadenzen haben, wobei beide Quartette dem Reimschema ABBA, die Terzette dem Muster CCD,EED folgen. Dass es aber sechs Hebungen je Vers gibt, wodurch die Verse als Alexandriner bezeichnet werden, ist eine Eigenart des Barock und nicht in jedem Sonett so.Merkmale und Aufbau eines Sonetts

Formen und Aufbau des Sonetts

Wie bereits geschrieben, hat das Sonett einen festen Aufbau und hat demnach auch ganz eindeutige Merkmale, die sich benennen lassen. Allerdings gibt es in den einzelnen Epochen sowie Regionen unterschiedliche Ausprägungen und Eigenarten der Sonettdichtung, wobei diese nur in einzelnen Details abweichen. Nachfolgend ein Überblick, der die wesentlichen Aspekte zusammenfasst.

Das klassische italienische Sonett, das gewissermaßen die Vorlage für alle weiteren Ausprägungen bildet, bestand ebenso aus vier Strophen, wobei zwei Quartette als Einstieg dienten, worauf zwei Terzette folgten. Allerdings werden die Strophen dabei aus Elfsilbern gebildet, den sogenannten Endecasillabi. Bei diesem Versmaß liegt die Betonung immer auf der zehnten Silbe. Da die meisten italienischen Wörter allerdings unbetont enden, haben die Verse des italienischen Sonetts meist 11 Silben und eine weibliche Kadenz.


O diletti d’amor dubbi e fugaci
O speranza che s’alza e cade spesso,
E nasce e more in un momento istesso;
O poca fede, o poco lunghe paci!
Hinweis: zwei Vokale, die aufeinander folgen, werden verschliffen und als Dipthong gesprochen. Jeder Vers enthält im vorgestellten Beispiel also tatsächlich nur 11 Silben. Die Verschleifungen sind farblich markiert.

Das obige Beispiel ist einem Sonett von Gaspara Stampa, einer italienischen Dichterin des 16. Jahrhunderts, entnommen. Es handelt sich hierbei um das erste Quartett des Sonetts. Offensichtlich ist, dass jede Zeile aus 11 Silben besteht und unbetont endet, wobei das Versmaß durchgehend alternierend ist. Es handelt sich demnach um ein typisches italienisches Sonett jener Zeit, das die äußeren Merkmale erfüllt.

Diese ursprüngliche Form des Gedichts wurde mit all ihren Eigenheiten ins Spanische und Portugiesische übernommen. Weiterhin gab es Versuche, diesen Aufbau auch ins Deutsche zu übertragen. Hierbei wurden fünfhebige Jamben gewählt, so dass die anfänglichen Sonette auf deutsch in der Regel 10 oder 11 Silben hatten und sich außerdem, wie auch das Vorbild, durch fünf Hebungen auszeichneten.

Im Deutschland des 16. und 17. Jahrhundert erklärte Martin Opitz, ein Dichter des Barock, den Alexandriner zum wesentlichen Versmaß der deutschen Dichtung, der auch das bevorzugte Versmaß der französischen Tragödie darstellte. Demnach ist es kaum verwunderlich, dass das Sonett kurzerhand in ebendiese Form übertragen wurde und sich demzufolge die meisten deutschen Sonette an dieser Form orientieren.

Das bedeutet, dass das typische deutsche Sonett im Barock genau sechs – und eben nicht fünf – Hebungen aufwies, weshalb es entweder 12 oder 13 Silben hat. Weiterhin zeichnet sich der Alexandriner durch eine Zäsur zwischen drittem und viertem Versfuß aus. Nun ein Beispiel, das diesen Aufbau deutlich macht.


Du siehst wohin du siehst  |  nur Eitelkeit auf Erden.
Was dieser heute baut  |  reißt jener morgen ein:
Wo jetztnoch Städte stehn  |  wird eine Wiese sein
Auf der ein Schäfers kind  |  wird spielen mit den Herden.

Das Beispiel ist das erste Quartett des Sonetts Es ist alles eitel, das ebenfalls vom barocken Dichter Andreas Gryphius stammt. Die äußeren Merkmale der Form wurden bereits beschrieben, weshalb sie unkommentiert bleiben. Entscheidend ist die Zäsur, die nach dem dritten Versfuß und vor dem vierten Versfuß steht. Ein Versfuß ist hierbei ein vollständiger Jambus, also die Abfolge einer unbetonten und einer betonten Silbe.

Eine solche Zäsur ist für den Alexandriner charakteristisch und demnach ebenso für das barocke Sonett. Die Zäsur bezeichnet einen metrischen Einschnitt, der beim Lesen als kurze Pause wahrgenommen wird. Folglich werden die einzelnen Zeilen in der Mitte metrisch gespaltet. Wer das Gedicht einmal laut und deutlich liest, wird merken, dass nach siehst, baut, stehn und -kind eine deutliche Sprechpause gemacht wird.

Einerseits ist das nur ein formales Merkmal, das in einer Gedichtanalyse erwähnt werden könnte, andererseits hat die Zäsur im Sonett aber zumeist eine inhaltlich Funktion. Sie steht nämlich in der Regel zwischen zwei Gegensätzen, also Antithesen. Darauf gehen wir im Abschnitt Inhaltliche Struktur des Sonetts genauer ein.

Auch in England avancierte das Sonett sehr schnell zu einer beliebten Gedichtform. Aber auch hier wurde die italienische Urform verändert. So bildeten nicht zwei Quartette den Einstieg, sondern drei Terzette, die durch einen Zweizeiler, dem sogenannten heroic couplet, abgeschlossen wurden. Der fünfhebige Jambus bestimmte die englischen Sonette, wobei die Verse auf eine weibliche oder männliche Kadenz endeten.

Später, im Deutschland des endenden 18. sowie beginnenden 19. Jahrhunderts, galt als Idealform eines Sonetts nicht mehr der alexandrinische Vers, sondern ebenfalls der jambische Fünfheber, wobei die Anzahl der Quartte und Terzette jedoch blieb. Übrigens gilt allgemein für die deutsche Lyrik, dass der Alexandriner, spätestens seit dem Sturm und Drang, durch den flexibleren Blankvers verdrängt wurde.

Wenngleich sich die Anzahl der Hebungen in den verschiedenen Sprachen und Epochen durchaus änderte, blieb das Reimschema im Sonett aber in allen Varianten identisch. Die Quartette wurden typischerweise in umarmenden Reimen verfasst und die Terzette häufig im Schema cdc/dcd; cde/cde und ccd/eed.

Inhaltliche Struktur des Sonetts

Wie im vorherigen Abschnitt angedeutet, folgen die meisten Sonette – unabhängig von ihrem formalen Aufbau – einer inhaltlichen Logik. Diese spiegelt sich im deutschen, barocken Sonett in den Versen wider, wobei im italienischen Sonett durchaus ein Inhalt über die Strophen kommuniziert wird.

In italienischen Sonetten findet sich dabei oftmals die nachfolgende Struktur: Das erste Quartett beinhaltet eine These (Behauptung), der im zweiten Quartett eine Antithese gegenübersteht. Dies kann ein inhaltliches Widerspruch sein oder eine Art Gegenbehauptung. In den Terzetten wird dann eine Synthese, also ein Resultat gebildet. Mitunter steht die These auch in den Quartetten, die Antithese in den Terzetten.

In der deutschen Nachbildung, die vom Alexandriner bestimmt wurde, findet sich ein solcher Widerspruch häufig innerhalb der Verszeilen, wobei die einzelnen Seiten durch die Zäsur voneinander getrennt werden. Das bedeutet, dass bis zur dritten Hebung im Vers eine Aussage getroffen wird, die dann revidiert, also aufgehoben, oder der etwas entgegengesetzt wird. Schauen wir erneut auf das Quartett von Gryphius:


Du siehst wohin du siehst  |  nur Eitelkeit auf Erden.
Was dieser heute baut  |  reißt jener morgen ein:
Wo jetztnoch Städte stehn  |  wird eine Wiese sein
Auf der ein Schäfers kind  |  wird spielen mit den Herden.

Dieses Beispiel wurde bereits vorgestellt. Dieses Mal soll es allerdings um die inhaltlichen Aspekte gehen. Vor allem im zweiten sowie dritten Vers wird der antithetische Aufbau deutlich. So heißt es vor der Zäsur der zweiten Zeile, dass jemand heute etwas aufbaut, woraufhin nach der Zäsur darauf verwiesen wird, dass es morgen bereits eingerissen ist. Die dritte Zeile ist ähnlich, wobei sich Städte und Wiesen gegenüberstehen.

Diese Widsprüche finden sich recht häufig in alexandrinischen Versen und demzufolge, da sie das Sonett des Barock bestimmen, ebenso für diese Gedichtform. Ein weiteres Beispiel, wobei die Gegensatzpaar beinahe in Paradoxa (Scheinwidersprüche) umschlagen, findet sich bei Angelus Silesius, einem Lyriker und Theologen des Barock. Die folgenden Zeilen sind seinem Werk Der cherubinische Wandersmann entnommen.


Blüh auf, gefrorner Christ,  |  der Mai ist vor der Tür:
Du bleibest ewig tot,  |  blühst du nicht jetzt und hier.

Tenzone und Sonettenkranz

Oftmals wurden Sonette in Gedichtzyklen zusammengefasst. Diese größeren Zyklen können eine Art Streitgespräch zwischen mehreren Autoren abbilden oder auch einem ganz bestimmten Oberthema gewidmet sein. Die typischen Vertreter sind hierbei die Tenzonen sowie der Sonettenkranz.

  • Tenzone: Bezeichnet ein Streitgespräch zwischen zwei Dichtern (vgl. Disput, Kontroverse), das häufig über einen längeren Zeitraum geführt wird. Die strenge Form der Tenzone sieht vor, dass die Reim-Endungen des Sonetts, das beantwortet wird, aufgegriffen werden. Tenzonen können durchaus polemisch sein.

  • Sonettenkranz: Ein Sonettenkranz besteht insgesamt aus 15 Sonetten (14 Einzelsonette, 1 Meistersonett). Hierbei greift jedes Sonett die Schlusszeile des vorherigen als ersten Vers auf. Aus den Schlussversen aller 14 Sonette ergibt sich dann, jedoch in unveränderter Reihenfolge, das Meistersonett gebildet.

Weitere Sonett-Beispiele

In der bisherigen Betrachtung wurden bereits einige Sonette untersucht und exemplarisch vorgestellt. Allerdings ist die Sonett-Dichtung enorm vielfältig, weshalb ein solcher Beitrag lediglich einen kleinen Ausschnitt abbilden kann. Dennoch möchten wir nachfolgend ausgewählte Sonett-Beispiele aus verschiedenen Epochen und Regionen versammeln. Die Beispiele klappen Beim Klicken auf.

<strong>Natur und Kunst</strong>, Johann Wolfgang von Goethe

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst, in abgemessnen Stunden,
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen.
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muss sich zusammenraffen.
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

<strong>An Gladys</strong>, Ernst Blass

So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht,
Den schwarzen Hut auf meinem Dichterhaupt.
Die Straßen komme ich entlang geweht.
Mit weichem Glücke bin ich ganz belaubt.

Es ist halb eins, das ist ja noch nicht spät …
Laternen schlummern süß und schneebestaubt.
Ach, wenn jetzt nur kein Weib an mich gerät
Mit Worten, schnöde, roh und unerlaubt!

Die Straßen komme ich entlang geweht,
Die Lichter scheinen sanft aus mir zu saugen,
Was mich vorhin noch von den Menschen trennte;

So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht …
Freundin, wenn ich jetzt dir begegnen könnte,
Ich bin so sanft, mit meinen blauen Augen!

<strong>Im tollen Wahn hatt' ich dich einst verlassen</strong>, Heinrich Heine

Im tollen Wahn hatt’ ich dich einst verlassen,
Ich wollte gehn die ganze Welt zu Ende,
Und wollte sehn ob ich die Liebe fände,
Um liebevoll die Liebe zu umfassen.

Die Liebe suchte ich auf allen Gassen,
Vor jeder Thüre streckt’ ich aus die Hände,
Und bettelte um gringe Liebesspende, –
Doch lachend gab man mir nur kaltes Hassen.

Und immer irrte ich nach Liebe, immer
Nach Liebe, doch die Liebe fand ich nimmer,
Und kehrte um nach Hause, krank und trübe.

Doch da bist du entgegen mir gekommen,
Und ach! was da in deinem Aug’ geschwommen,
Das war die süße, langgesuchte Liebe.

<strong>Ihr Herz ist gefroren</strong>, Georg Rudolf Weckherlin

Gleich wie ein armer Mensch aus irdischem Verstand
Vermeinet, horchend zu des Aberglaubens Lehren,
Ein schöngemaltes Bild als seines Geists Heiland
Mit Bitten, Opfern, Lob und anderm Dienst zu ehren:

Also und mehr fehl ich — witzlos — durch mein Begehren,
Wann ich für euch erhob mein Herz, Gesicht und Hand,
Wann ich mich darf ob euch beklagen und beschweren,
Da schuldig doch allein mein eigner Unverstand.

Ja, Göttin, deren Gnad mich könnt allein erlaben,
Euch klag ich an umbsunst, umbsunst hoff ich den Lust,
Dass euer Herz mit Lieb werd meine Lieb begaben.

Dann sollt ich, als ich sah eurer schneeweißen Brust
Bezaubernde Bühl, nicht — klüger — gedacht haben,
Daß unter solchem Schnee ein Herz von Eis sein musst?

<strong>Frühling ist wiedergekommen</strong>, Rainer Maria Rilke

FRÜHLING ist wiedergekommen. Die Erde
ist wie ein Kind, das Gedichte weiß;
viele, o viele…. Für die Beschwerde
langen Lernens bekommt sie den Preis.

Streng war ihr Lehrer. Wir mochten das Weiße
an dem Barte des alten Manns.
Nun, wie das Grüne, das Blaue heiße,
dürfen wir fragen; sie kanns, sie kannst

Erde, die frei hat, du glückliche, spiele
nun mit den Kindern. Wir wollen dich fangen,
fröhliche Erde. Dem Frohsten gelingts.

O, was der Lehrer sie lehrte, das Viele,
und was gedruckt steht in Wurzeln und langen
schwierigen Stämmen: sie singts, sie singts!

<strong>Sie hat mein vergessen</strong>, Clemens Brentano

schwerer, heißer Tag! Ihr leichtes Leben
Schließt müde weinend seine Augenlider,
Schon senkt der Schlaf das tauende Gefieder,
Um solche Schönheit kühl ein Dach zu weben.

Von ihren Lippen leise Worte schweben:
„Du Liebe süßer Träume, kehre wieder!“
Da lässt sich ihr Traum der Liebe nieder,
Um ihres Schlummers kranke Lust zu heben. –

„Du Traum!“ – „Ich bin kein Traum“, spricht er mit Bangen,
„O lass uns nicht so holdes Glück versäumen!“
Da weckt er sie und wollte sie umrangen. –

Sprecht! Wessen bin ich? Wer hat mich besessen?
Ich lebte nie – war eines Weibes Träumen –
Und nimmer starb ich – sie hat mein vergessen.

<strong>Ein Wunderland ist oben aufgeschlagen</strong>, Joseph von Eichendorff

Ein Wunderland ist oben aufgeschlagen,
Wo goldne Ströme gehen und dunkel schallen,
Gesänge durch das Rauaschen tief verhallen,
Die möchten gern ein hohes Wort dir sagen

Viel‘ goldne Brücken sind dort kühn geschlagen,
Darüber alte Brüder sinnend wallen –
Wenn Töne wie im Frühlingsregen fallen.
Befreite Sehnsucht will dorthin dich tragen.

Wie bald lag‘ unten alles Bange, Trübe,
Du strebtest lauschend, blicktest nicht mehr nieder,
Und höher winkte stets der Brüder Liebe:

Wen einmal so berührt die heil’gen Lieder,
Sein Leben taucht in die Musik der Sterne,
Ein ewig Ziehn in wunderbare Ferne!

<strong>Am Walde</strong>, Eduard Mörike

Am Waldraum kann ich lange Nachmittage,
Dem Kuckuck horchend in dem Grase liegen;
Er scheint das Tal gemächlich einzuwiegen
Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.

Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage,
Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen,
Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
Wo ich auf eigne Weise mich behage.

Und wenn die feinen Leute nur erst dächten,
Wie schön Poeten ihre Zeit verschwenden,
Sie würden mich zuletzt noch gar beneiden.

Denn des Sonetts gedrängte Kränze flechten
Sich wie von selber unter meinen Händen,
Indes die Augen in der Ferne weiden.


Weiterführend: Eduard Mörike (Lebenslauf)

Kurzübersicht: Das Sonett im Überblick


  • Als Sonett wird eine Gedichtform bezeichnet, die ihre Ursprünge im Italien des 13. Jahrhunderts hat. Das Sonett zeichnet sich durch einen eindeutigen Aufbau aus, auch wenn es zahlreiche Varianten der Gedichtform gibt. Dadurch, dass die äußeren Merkmale des Sonetts zumeist gleichbleibend sind, lässt sich das Sonett recht einfach erkennen.
  • Die Gedichtart glieder sich in zwei Quartette (Vierzeiler), worauf zwei Terzette (Dreizeiler) folgen. Die Verse der Strophen sind jambisch alternierend und zeichnen sich durch je sechs Hebungen aus. Demnach kann jede Verszeile 12 oder 13 Silben haben, die entweder auf eine männliche oder weibliche Kadenz enden. Die italienische Urform hatte 10 oder 11 Silben je Zeile.
  • Das Reimschema der Quartette folgt in der Regel dem Muster des umarmenden Reims (abba), wohingegen die Terzette meist dem Schema cdc/dcd, cde/cde und ccd/eed folgen. Varianten sind allerdings möglich, da das Reimschema der Terzette nicht verbindlich ist.
  • Im deutschen Barock war es üblich, das Sonett durchgehend in Alexandrinern zu schreiben. Der Alexandriner ist ein jambisches Versmaß, das sich durch sechs Hebungen auszeichnet. Nach der dritten Hebung steht eine Zäsur. Diese Zäsur markiert im Alexandriner sehr häufig einen inhaltlichen Wendepunkt. So stehen sich innerhalb eines Verses häufig Widersprüche, also gegensätzliche Aussagen (Antithesen), gegenüber.
  • Sehr häufig setzen sich Sonette mit einem Thema auseinander, das aus mehreren Perspektiven untersucht wird. Hierbei wird in der ersten Strophe eine Behauptung gemacht oder auch nur ein Gedanke aufgegriffen. In der zweiten Strophe wird ebendiese Behauptung widerlegt oder auch ein gegensätzliches Erlebnis geschildert. Das Ergebnis dieser inhaltlichen Gegenüberstellung wird dann in den Terzetten zu einem Ergebnis oder einer endgültigen Aussage gefasst.