Fin de Siècle

Als Fin de Siècle, auch Dekadentismus, wird ein Lebensgefühl sowie eine künstlerische und kulturelle Bewegung zwischen den Jahren 1890 und 1914 bezeichnet. Das Fin de Siècle beeinflusste die Literatur, Musik und Kunst jener Zeit, kann aber nicht als eigenständige Literaturepoche beschrieben werden, sondern eher als eine Einstellung, welche sich in verschiedenen Stilen niederschlug. So beeinflusste dieser Dekadentismus maßgeblich den Symbolismus, Jugendstil und Impressionismus, Ästhetizismus sowie ähnliche avangardistische Strömungen, welche sich inhaltlich teilweise sogar widersprachen. Inhaltlich kreist die Bewegung um den kulturellen Verfall und kann darüber hinaus als eine Gegenbewegung zum Naturalismus verstanden werden, der vor allem in Kunst und Literatur die naturwissenschaftlich exakte Gestaltung der empirischen Wirklichkeit als Ideal betrachtete.


Begriff

Die Bezeichnung Fin de Siècle geht auf den Titel des gleichnamigen Lustspiels zurück, einem Theaterstück in 4 Akten aus dem Jahr 1888 von Francis de Jouvenot sowie H. Micard. Allerdings wurde die Wortfolge erstmals 1886 in der Zeitschrift Le Décadent verwendet. Demnach wurde der Begriff vor allem im Frankreich um die Jahrhundertwende geprägt, dann allerdings in der Folge als Bezeichnung für ein gesamteuropäisches Phänomen gebraucht: nämlich für das allgemeine Lebensgefühl kurz vor dem Ersten Weltkrieg.

Die Wortfolge leitet sich somit ebenfalls aus dem Französischen ab und lässt sich mit Ende des Jahrhunderts übersetzen, wobei in der alternativen Bezeichnung (Dekadentismus) ein weiterer und wichtiger Aspekt der Strömung aufgegriffen wird. Dieser Begriff leitet sich nämlich vom Nomen Dekadenz ab. Als Dekadenz wird der Verfall und Niedergang einer Gesellschaft bezeichnet, wobei Veränderungen innerhalb der Gesellschaft oder Kultur als ursächlich betrachtet werden und davon ausgegangen wird, dass alles einmal untergeht.

Als wesentliches Merkmal gilt folglich eine Untergangsstimmung, die sich in zahlreichen Werken jener Zeit ausmachen lässt. Bedingt wurde diese vor allem durch den nahenden Epochenwechsel, der das Ende eines Jahrhunderts markiert. Diese Verfallsstimmung äußerte sich in einer pessimistischen Weltsicht, einem starken Lebensüberdruss, aber im gleichen Maße einer ausufernden Genusssucht, und somit in Zukunftseuphorie, aber ebenso Zukunftsangst sowie einer Wendung gegen den Fortschritt und folglich gegen den Naturalismus.Epochen der Literatur als Zeitstrahl

Merkmale des Fin de Siècle

Da sich die kulturelle Bewegung des Fin de Siècle in zahlreichen Bereichen der Kunst niederschlug und eher eine Art Lebensgefühl beschreibt, lassen sich die einzelnen Merkmale der Bewegung nur recht oberflächlich benennen und sich an verschiedenen Ausprägungen nachweisen. Demnach ist die folgende Übersicht der Versuch, einen umfassenden Überblick der wichtigsten Merkmale zu geben.

Übersicht: Die Merkmale des Fin de Siècle im Überblick


  • Die Bezeichnung Fin de Siècle stammt ursprünglich aus Frankreich und wurde anfangs vor allem in Paris zum Modeausdruck. In den 1890er Jahren wurde der Begriff auch in Deutschland gebraucht und bezeichnete alles Überlebte, Verrottete, an der Wende des Jahrhunderts dem Untergang Verfallene und bezog sich auf die abendländische Hochkultur. Ursprünglich war der Begriff der Titel eines Lustspiels, das 1888 uraufgeführt wurde. Weiterhin veröffentlichte der österreichische Schriftsteller Hermann Bahr 1891 einen Novellenband unter diesem Titel.
  • Die Jahre um die Jahrhundertwende (1890 – 1914), die sich durch die beschriebene Stimmung auszeichneten, sind vor allem durch einen enormen Stilpluralismus geprägt. Das bedeutet, dass zahlreiche kulturelle, künstlerische und literarische Bewegungen zeitgleich entstanden, sich gegenseitig befruchteten und sich teils sogar widersprachen. Stellvertretend können Jugendstil, Impressionismus, Symbolismus und Décadence (Dekadenzdichtung) genannt werden.
  • Dennoch haben diesen unterschiedlichen Stilrichtungen und kukturellen Bewegungen eine Gemeinsamkeit: nämlich das erklärte Ziel, den Naturalismus und naturalistische Tendenzen – die sich auf die Abbildung einer objektiven Realität konzentrierten und soziale Konflikte darstellten, wobei die Welt naturgetreu, wissenschaftlich exakt abgebildet wurde – zu überwinden.
  • Um die wichtigsten Merkmale der Bewegung zu verstehen, muss beachten werden, dass gerade zu jener Zeit die technische Entwicklung schnell und unaufhaltsam voranschritt. In den Vereinigten Staaten begann ein enormer Modernisierungsprozess, der sich alsbald auf weitere Machtzentren der europäischen Welt ausbreitete, wobei dieser Technisierungsgrad in einem ungeahnten Tempo wuchs, so dass sich das deutsche Kaiserreich von einem stark agrarisch geprägten Land in einen modernen Industriestaat wandelte und zwar in einer ungeheuren Geschwindigkeit. Dies kann exemplarisch am Beispiel der Stahlindustrie nachvollzogen werden: hier ließen neue Produktionsverfahren die Produktivität um das 25-fache ansteigen.
  • Aufgrund dieser neuen technischen Möglichkeiten, die alsbald auf viele Bereiche des Lebens übergriffen, verloren einzelne – teils überholte – Industriezweige vermehrt an Bedeutung und die Menschen mussten sich der Entwicklung unterordnen und fügen, wobei durch Industrialisierung und Gewerbefreiheit alte gesellschaftliche Strukturen aufgebrochen wurden. Um eine Anstellung zu finden, zog es die Menschen in die Städte, weshalb es massive Landfluchten gab, eine ungewohnte Enge in den Städten selbst und außerdem ein enormes Bevölkerungswachstum.
  • Darüber hinaus war auch die politische Bühne im Wandel und stand der rasanten technischen Entwicklung gegenüber, da hierbei vor allem alte sowie bewährte Strukturen dominierten. Die Politik wurde immer noch vom Adel geprägt, wobei die Kirche ihren Einfluss vermehrt verlor und ein aufkeimender Nationalismus unter den Bürgern zu Konflikten mit diesem System führte. Folglich war der Fortschritt allgegenwärtig, manifestierte sich aber kaum im politischen Treiben.
  • Alle diese Punkte: der Fortschritt auf der einen Seite, die daraus entstehenden Fragen und Veränderungen sowie das Alte und Vertraute auf der anderen Seite, führten in breiten Teilen der Bevölkerung zu durchwachsenen Empfindungen, die sich in schwankenden Gefühlen äußerten, was sich ebenfalls in zahlreichen Werken der künstlerischen Bewegungen niederschlug.
  • Demnach lässt sich im Fin de Siècle auf der einen Seite eine Zukunftsangst, welche durch gesellschaftliche Unsicherheit hervorgerufen wurde, finden, aber im gleichen Maße eine große Zukunftseuphorie, die den modernen Fortschritt feierte. Darüber hinaus war die Zeit von einem Schwanken zwischen Aufbruchs- und Endzeitstimmung, Lebensüberdruss und Weltschmerz, aber auch Faszination von Tod und Vergänglichkeit, Leichtlebigkeit, Frivolität sowie Dekadenz geprägt. Ebendiese Widersprüchlichkeit ist es aber auch, welche sich in den Werken jener Zeit ausmachen lässt, weshalb das Nennen von allgemeingültigen Merkmalen kaum möglich ist.
  • Die Literaten und Künstler des Fin de Siècle wurden somit eher von einer Ohnmacht ergriffen. Diese war bedingt durch ein Welt, die enorm schnell im Wandel war – in der Großstadt lebten nun die anonymen Massen, die Naturwissenschaften förderten den technischen Fortschritt, der im gleichen Maße anziehend und abstoßend erschien. Viele Intellektuelle erschufen deshalb künstlerische Gegenwelten und lebten als Subkultur gegen das bürgerliche Leben.
  • In der Literatur lässt sich diese Entwicklung vor allem in der Prosa nachempfinden. Zumeist wurden reale Situationen gezeigt, die oft von einem personalen Erzähler geprägt waren. Um den Konflikt der Protagonisten mit der Außenwelt darzustellen und greifbar zu machen, ist darüber hinaus der innere Monolog oder das Erzählen im Bewusstseinsstrom ein typisches Stilmittel im literarischen Programm des Fin de Siècle (vgl. Figurenrede), wodurch der Erzähler vermehrt in den Hintergrund rückte. In der Lyrik dominieren vor allem freie Rhythmen, die sich nicht an metrische Muster oder Reimschemata halten und versuchen, Augenblicke einzufangen.
  • Charakteristisch für die Kunst dieser Zeit ist darüber hinaus ein geflügeltes Wort, das um die Jahrhundertwende in Frankreich entstand: L’art pour l’art, das sich sinngemäß mit die Kunst um der Kunst willen übersetzen lässt. Diese Worte verdeutlichen ein weiteres Merkmal der Zeit: Kunst sollte um der Sache selbst willen entstehen und ohne Hintergedanken an die spätere Anwendung, ein mögliches Geschäft oder einen Nutzen für den Künstler. Es ist bis heute ungeklärt, wer diese Worte prägte, denkbar sind Victor Cousin und Théophile Gautier.

Das Fin de Siècle in der Literatur

Wie bereits beschrieben, ist das Fin de Siècle eher eine Empfindung, die das künstlerische Treiben um die Jahrhundertwende prägte. Da sich dieses Merkmal aber in verschiedenen Stilen äußerte, wobei teils widersprüchliche Arbeiten entstanden, die außerdem von verschiedenen Strömungen beeinflusst wurden, gibt es nicht den einen Stil oder das eine Merkmal, das die Literatur und Kunst prägte.

Allerdings gibt es einige Autoren, die häufiger mit der Literatur dieser Zeit in Verbindung gebracht werden und außerdem Literaten, deren Œuvre sich darüber hinaus häufig durch die vorgestellten Merkmale auszeichnen. Im Zusammenhang mit dem literarischen Programm spricht man allerdings seltener von der Literatur des Fin de Siècle, als von der sogenannten Dekadenzdichtung, die dann 1910 vom Expressionismus abgelöst wurde, aber zahlreiche Werke um die Jahrhundertwende prägte.

Diese Dekadenzdichtung zeichnet sich durch anti-moralische, anti-bürgerliche und auch anti-realistische Tendenzen aus und ist von Lebensüberdruss, Schönheitskult, Verfalls- und Untergangsstimmung, aber auch Genusssucht geprägt und richtet sich vehement, teils polemisch und zynisch, gegen die Industrialisierung und Verwissenschaftlichung sowie die Zukunftseuphorie vierler Menschen. Folglich lassen sich die Empfindungen, die bereits beschrieben wurden, auch in der Literatur nachweisen und auch hierbei gibt es eine Hin- und Hergerissenheit zwischen Lebenslust und Lebensüberdruss sowie zwischen Niedergang und Aufbruch.

Typische Vertreter sind Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke, die sich auch dem Impressionismus zuordnen lassen oder auch die Symbolisten Arthur Rimbaud und Paul Verlaine. Weiterhin können hierbei Anton Tschechow, Gabriele d’Annunzio, Maurice Maeterlinck, Jens Peter Jacobsen, Oscar Wilde sowie Peter Altenberg oder auch Thomas Mann und sein älterer Bruder Heinrich Mann angeführt werden.

Diese Autoren spielten mit den beschriebenen Themen und verarbeiteten die allgemeinen Empfindungen, wiesen andererseits aber auch stilistisch einige Gemeinsamkeiten auf. In zahlreichen Werken tritt der Erzähler sehr stark in den Hintergrund, wodurch es die Figuren selbst sind, die die erzählte Welt schildern, wobei sich diese häufig mittels Bewusstseinsstrom und innerem Monolog äußerten. Ferner ist die Literatur oftmals durch Pessimismus und Melancholie geprägt. So heißt es etwa in Oscar Wildes Bunbury (1895):


ALGERNON: Ich hoffe, morgen wird ein schöner Tag, Lane.
LANE: Das ist es nie, Sir.
ALGERNON: Lane, Sie sind ein Pessimist durch und durch.
LANE: Ich tue mein Bestes, Sie zufriedenzustellen, Sir

Weiterhin zeichnen sich zahlreiche Werke dadurch aus, dass sie versuchen, die Wirklichkeit objektiv darzustellen und die Empfindungen ungefiltert und rein zu vermitteln. Folglich sind es in der Lyrik Momente und Eindrücke, die unvermittelt dargestellt werden. Es ging hierbei oftmals weniger um das Darstellen der Wirklichkeit, als um das, was der Dichter im Augenblick auf- und wahrnimmt. Darüber hinaus erscheinen Handlung und Figuren häufig verrätselt, wobei teils mit gewohnten Erzählstrukturen gebrochen wird.

Vertreter und Werke (Auswahl)

  • Claude Debussy (1862-1918)
    • Pelléas et Mélisande (Oper, 1902)
  • Oscar Wilde (1854-1900)
    • Ein idealer Gatte (Komödie, 1894)
    • Ernst sein ist alles oder Bunbury (1895)
  • Rainer Maria Rilke (1875-1926)
  • Joris-Karl Huysmans (1848-1907)
    • Gegen den Strich (1884)
  • Hugo von Hofmannsthal (1874-1929)
  • Arthur Rimbaud (1854-1891)
  • Paul Verlaine (1844-1896)